Dieses Auto parkt hier seit 3473 Tagen

Vor neuneinhalb Jahren fährt die Münchnerin Claudia B. ihren Mitsubishi in eine Tiefgarage auf der Schwanthalerhöhe – und holt ihn nie wieder ab. Jetzt soll sie zahlen.
München - "Wasch mich", hat jemand in den dicken Staub geschrieben, der das Dach bedeckt. Die Motorhaube ist auf die gleiche Art zur Flirtbörse geworden - mit Herzchen, Liebesschwüren und Handynummern.
Paketband dichtet das Seitenfenster ab. Auf der Rückbank liegen Bierflaschen, Kartons und mehrere Rollen Toilettenpapier - ausgerollt. Auf den Vordersitzen Zigarettenpackungen, zerbeulte Safttüten und mit Filzstift beschriftete CDs ("Another Dance Night"). Auf dem Boden Kontoauszüge, Überweisungsscheine und Postkarten. Im offenen Handschuhfach ein Mittel gegen Sodbrennen.
Das Auto von Claudia B. sieht aus wie eine vermüllte Wohnung. Eine verlassene vermüllte Wohnung.
Die Münchnerin, 43 Jahre alt, hat den Wagen nicht mehr bewegt, seit sie 33 ist. Seit 3473 Tagen.
Zuerst denken die Parkwächter an ein Verbrechen
Die kuriose Geschichte beginnt am 24. November 2003, einem kalten, regen- und ereignislosen Montag.
Johannes Heesters hat gerade in den Bavaria Studios eine Gala zu seinem 100. Geburtstag aufgezeichnet, in der AZ steht, in welchen Kneipen man sich das Champions-League-Spiel Bayern gegen Glasgow anschauen kann, und Claudia B. fährt ihren Mitsubishi Colt GL in die "Parkgarage Hacker-Saturn" in der Schwanthalerstraße 112.
Sie sucht sich einen schönen Parkplatz: im ersten Untergeschoss, bei den Aufzügen, die inzwischen zu Saturn, XXXLutz und Toys'R'Us führen, gleich in der Nähe des Ticketautomaten. Bezahlt hat sie dort bis heute keinen Cent.
Seit neuneinhalb Jahren parkt ihr Fahrzeug - einst schneeweiß, heute aschgrau - an der gleichen Stelle. Claus Schnell, Geschäftsführer der Bavaria Parkgaragen GmbH (insgesamt 12 226 Stellplätze) von Unternehmerin Alexandra Schörghuber, würde die "Scheißkarre" am liebsten in Luft auflösen.
"Sie können sich nicht vorstellen, was für ein behördlicher und bürokratischer Aufwand nötig ist, um dieses Fahrzeug zu entfernen!", sagt er, und sein gepflegtes Bairisch pendelt zwischen belustigt und genervt.
Im Frühjahr 2004, als das Auto bereits monatelang unbewegt parkt, schauen die Mitarbeiter von Schörghuber und Schnell erstmals genauer hin. Und wundern sich. Im Inneren des verlassenen Wagens liegen auffallend viele persönliche Dinge. Die Betreiber halten ein Verbrechen für möglich und wenden sich besorgt an die Polizei.
Ergebnis: Einen kriminellen Hintergrund gibt es nicht. Mehr dürfen die Beamten nicht preisgeben.
Immer wieder redet sich die Besitzerin raus
Das Unternehmen ermittelt allein weiter. Über das Kraftfahrzeugbundesamt erfährt es nach schriftlichem Antrag, dass der Wagen keine Tüv-Zulassung mehr hat, abgemeldet ist und wie die Besitzerin heißt.
Der nächste Schritt: die Telefonnummer herausfinden - und anrufen.
Die gute Nachricht: Claudia B. lebt. Und ist ganz entspannt. Ja, sie kommt vorbei, holt das Auto ab und wird dann auch bezahlen, verspricht die studierte Soziologin und Politologin.
Sie kommt nie. Immer wieder redet sich Claudia B. heraus, hat immer einen Grund, warum es gerade nicht passt. Die Produktmanagerin ist tatsächlich viel unterwegs, in Kroatien, Somalia, Portugal und Indien. Die beeindruckenden Bilder ihrer Urlaube stellt sie für jedermann sichtbar ins Internet.
Dass in München ein Auto in der Tiefgarage steht, ihr Auto, gerät wohl in Vergessenheit.
2004 schrauben Angestellte der Parkgarage einen Poller vor das verstaubte Fahrzeug, damit es nicht unbemerkt entfernt werden kann.
Ein paar Mal melden sie sich noch bei Claudia B. - und unternehmen dann nichts mehr. "Wir wollten den Aufwand und die Kosten für uns so gering wie möglich halten", erläutert Claus Schnell. "Das Auto einfach ins Freie stellen - das geht nicht."
20 Euro zahlen Kunden pro Tag
Doch jetzt reicht es ihm. Claudia B. sei "eine Mietnomadin in der Tiefgarage", sagt er. "Ich will mein Geld!"
Das ist nicht wenig: 20 Euro zahlen Kunden pro Tag. Bei 3473 Tagen sind das 69 460 Euro.
Die Forderung steht. Der Geschäftsführer signalisiert, dass er auch bereit wäre, eine Monatsmiete zu akzeptieren. Die liegt bei 65,45 Euro. Dann wären bei 114 Monaten immerhin 7461,30 Euro fällig.
In diesen Tagen bewegt Claus Schnell das Auto zum ersten Mal - und sich selber damit in einer rechtlichen Grauzone. Eigentlich darf er das nicht, schließlich heißt die Eigentümerin nach wie vor Claudia B. Jetzt parkt der Colt ein Stückchen weiter, in einer Box, wo er weniger Kunden stört.
Das war schwer genug. Die Achsen blockieren. "Da spürst die Bandscheiben", ächzt ein Mitarbeiter der Tiefgarage.
Der Mitsubishi ist reif für die Schrottpresse
Claus Schnell hat die Staatsanwaltschaft eingeschaltet. In vergleichbaren Fällen - in Berlin erlebte er Ähnliches, in München noch nie - kam eine Zwangsversteigerung als Lösung in Frage.
Hier nicht. Der Mitsubishi ist reif für die Schrottpresse. Doch die Entsorgung verursacht Kosten. Und auf denen will Claus Schnell nicht sitzenbleiben.
Auf das Verfahren ist er gespannt. "Die taucht sicher ohne Anwalt auf und sagt, dass sie nichts hat", prophezeit er. "Wir werden auf entgangenen Umsatz klagen."
Verluste gab es auf jeden Fall. Schon alleine wegen der neun Oktoberfeste. Die gepflegte Parkgarage liegt gerade einmal 300 Meter von der Wiesn entfernt und ist im September so begehrt wie eine Box bei Käfer. Auch an Samstagen ist die Bude voll - vier große Geschäfte und das Hotel "Four Points by Sheraton" sind im selben Gebäudekomplex untergebracht.
Claudia B., die in der Nähe der Lindwurmstraße lebt, hat auf mehrere Anfragen der AZ nicht reagiert. Die letzten Fotos, die sie im Internet postet, zeigen Proteste in Lissabon: gegen das Zurückzahlen von Schulden an Deutschland.