Darum sucht diese Buchhändlerin nun ihr Glück in Giesing

Die Buchhändlerin Bettina Roetzer hat einen ganz eigenen Blick auf die Stadt. In der AZ spricht sie über ihre Kunden, den Frust mit dem Zeitgeist – und warum sie nach Giesing umzieht.
Interview: Hüseyin Ince |
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Bettina Roetzer vor ihrem Buchladen in Giesing.
Daniel von Loeper Bettina Roetzer vor ihrem Buchladen in Giesing.

München - Große Frau, kurze Haare, Brille, sehr kommunikativ. So ist Bettina Roetzer schnell beschrieben und gut wiedererkennbar für alle, die in ihren neu eröffneten, alten Buchladen in Giesing gehen. Acht Jahre lang war ihr früheres Buchgeschäft in Haidhausen ein Lieblingsort für alle Nachbarn, die gerne ratschten und Bücher liebten. Nun will Roetzer auch in Giesing einen Ort der Begegnung führen.

AZ: Frau Roetzer, Internet-Megahändler wie Amazon dominieren nicht nur das Buchgeschäft. Was treibt Sie dazu, einen klassischen Buchladen in Giesing zu eröffnen?
BETTINA ROETZER: Aus meiner Erfahrung als Buchhändlerin in Haidhausen weiß ich, dass Menschen ein Grundbedürfnis nach echten Buchläden haben.

Warum? Ich bekomme doch jedes noch so seltene Buch problemlos im Netz.
Klar, aber sie können es nicht anfassen, bevor Sie es kaufen.

Das ist den Leuten wichtig?
Absolut. Das höre ich immer wieder. Außerdem können Sie einige Seiten querlesen. Und Sie können hier etwas tun, was das Internet nicht leisten kann.

Da bin ich gespannt.
Das Buch sofort mitnehmen! Falls es Ihnen gefällt. Wenn ich es nicht habe, kann ich es über Nacht bestellen, schneller als jeder Internethändler.

Was ist den Kunden noch wichtig?
Menschen, die einen relativ leisen Buchladen betreten, atmen durch, beruhigen sich im Hier und Jetzt, weg von all der Elektronik. Und alle die zu mir kommen wissen: Hier finde ich eine Vorauswahl, hier kann ich die Verkäuferin fragen, mich beraten lassen. Ein echtes Gespräch mit einem echten Menschen.

Roetzer: "Giesing? Finde ich geil. Haidhausen? War früher belebter"

Welche Generationen kaufen noch Bücher?
Querbeet. Auch die 20- bis 30-Jährigen, die ja eigentlich alles im Internet erledigen. Die sagen, Bücher hätten einen unschlagbaren Vorteil.

Nämlich?
Dass man sie untereinander austauschen kann, zum Beispiel während eines Backpacker-Urlaubs. Das geht mit E-Books nicht. Aber die jungen Leute kommen auch zu mir, wenn sie ihrer Freundin ein persönliches Reisetagebuch schenken wollen, handschriftlich und mit Stempel.

Zurück nach Giesing. Warum glauben Sie, hier in der Tegernseer Landstraße 21, auf viel Kundschaft zu stoßen?
Der Laden war ja schon vorher eine Buchhandlung. Und er lief gut. Der Vorbesitzer Gerhard Drechsler wollte jetzt ein paar Jahre genießen, nach über 30 Jahren Arbeit. Und da kam ich ins Spiel. Er wollte, dass keine große Kette wie Thalia oder Osiander einzieht, sondern das Geschäft weiter inhabergeführt bleibt.

Bettina Roetzer vor ihrem Buchladen in Giesing.
Bettina Roetzer vor ihrem Buchladen in Giesing. © Daniel von Loeper

Roetzer: "Giesing ist ein originales, altes Stadtviertel"

Was ist Ihr erster Eindruck von den Giesingern?
Extrem angenehme, gelassene Leute. Hier kennt man sich. Viele wohnen seit Jahrzehnten im Viertel. Giesing find ich echt geil. Es ist ein originales, altes Stadtviertel. Ich hatte schon wunderbare Begegnungen.

Ein Beispiel?
Eine ältere Dame kam vorbei. Sie erzählte, wie schön sie es findet, dass es hier in der Nachbarschaft weiterhin eine Buchhandlung gibt und sie mir ganz fest die Daumen drückt, dass alles gut klappt.

Warum gaben Sie Ihr Haidhauser Geschäft eigentlich auf?
Die Gegend um die Lothringer Straße, Ecke Pariser Straße war früher deutlich belebter. Das Geschäft wurde zuletzt spürbar schwächer, weil kaum noch Laufkundschaft unterwegs war. Ich habe das Gefühl, die Leute bestellen lieber ihren Wocheneinkauf nach Hause, bevor sie durch ihr Viertel schlendern. Hinzu kam, dass ich wegen der geringen Umsatzhöhe niemanden anstellen konnte. Das ist hier in Giesing möglich. Ich übernehme die frühere Mitarbeiterin von Herrn Drechsler. Und dann kommt hinzu, dass Haidhausen die größte Dichte an Buchläden hat. Es sind jetzt immer noch sieben.

Roetzer: "Vielleicht wachen die Leute auf, wenn die letzte Boazn schließt"

Wissen Sie, was aus Ihrem alten Buchladen nun wird?
Natürlich ein Design-Büro, Werbeagentur glaub ich (verdreht die Augen). Die Ecke ist jetzt tot.

Klingt, als ob Sie das schon erwartet hatten.
Wirklich keine Überraschung. Die Gegend ist in den letzten Jahren stark gentrifiziert worden. Die Platzmieten sind kaum noch bezahlbar, schon gar nicht für ein neues Buchgeschäft mit geringen Gewinnmargen.

Lässt sich die Entwicklung stoppen?
Irgendwann, wenn es dort nur noch Design-, Architektur- und Beratungsbüros gibt und die letzte Boazn, der letzte Bäcker, Metzger, Schreibwaren- oder Buchhändler schließt, wachen die Leute vielleicht auf. Im Westend ist die Gentrifizierung schon ziemlich vorangeschritten. Sie finden da sicher ein Designbüro, aber eine Brezn können Sie nicht mehr kaufen.

Roetzer: "Ich bin noch beim legendären Heinrich Hugendubel in die Lehre gegangen"

Was macht das mit Ihnen?
Es macht mich traurig. Ein bisschen Zorn ist auch dabei. Ich verstehe vieles daran nicht, wie die Menschen handeln.

Was sorgt bei Ihnen für Verständnislosigkeit?
Kurzsichtige Entscheidungen. Wenn ich etwa mitbekomme, dass die Leute zwar schnell dabei sind, wenn gegen Feinstaub protestiert wird. Aber dann bestellen sie fünf paar Schuhe übers Internet. Am besten einzeln. Fünf Paketlaster fahren vor, alle mit Diesel-Motoren. Und am Ende schicken sie vielleicht vier Pakete zurück. Das ist schon ziemlich absurd.

Warum haben Sie den Laden in Haidhausen damals eröffnet?
Ich bin gelernte Buchhändlerin und hatte noch das Glück, beim legendären Heinrich Hugendubel am Marienplatz in die Lehre zu gehen. Ich liebe Bücher einfach! Es ist eine Leidenschaft.

Was genau lieben Sie daran?
All diese Welten, in die man hineintauchen kann. Es gibt so viele Facetten. Ich finde es wunderschön, wenn es Autoren mit ihrer Sprache schaffen, Bilder hervorzurufen. Und außerdem: Ich liebe Papier, das Gefühl, wie es in der Hand liegt. Alter Buchdruck fasziniert mich am meisten. Ein altes Werk aufzuschlagen und mit den Fingerspitzen die Konturen der Buchstaben abzutasten – das ist für mich einfach einzigartig.

Roetzer: "Keine Ahnung, wie viele Bücher ich schon gelesen habe"

Eine Frage, die man einer Buchhändlerin unbedingt stellen sollte: Welche Geschichten lesen Sie am liebsten?
Das kann ich nicht sagen. Ich schnuppere hinein und entscheide nach einer Buchseite, ob ich es lesen will oder nicht. Manche kriegen ein bisschen mehr Zeit, aber das ist selten.

Wie viele Bücher haben Sie schon gelesen?
Wirklich keine Ahnung.

Sie werden doch ein bestimmtes Pensum haben.
Es ist so: Beruflich lese ich quer, privat jeden Buchstaben. Deswegen lese ich beruflich auch viel mehr. Ich kann da keine Zahl nennen.

Roetzer: "Kinderbücher suche ich sehr sorgsam aus"

Ich sehe Krimis, Lyrik, historische Romane, Kinderbücher, Bilderbücher... Sind Ihnen Kinder auch besonders wichtig?
Natürlich. Sie sind dankbar für spannende Bücher. Ich suche sie sehr sorgsam aus. Sie sollen vor allem die Phantasie der Kleinen ansprechen. Es macht Kinder glücklich, wenn man sie ernst nimmt, und fragt, welche Geschichten sie gerne lesen. Und klar, sie sind auch die Kunden von Morgen. Der Mensch hat schließlich viele Sinne. Und wenn man sie nicht von Anfang an trainiert, verkümmern sie irgendwann völlig. Aber wissen Sie, ich verkaufe ja nicht nur Bücher.

Sondern?
Einpackbänder, Papiersorten, Stifte, einige Brettspiele, Lutscher – und Büroklammern in Form von Fahrrädern oder Einhörnern. Und nicht zu vergessen: Ich führe hier den DHL-Shop fort. Der scheint all die Jahre ein Segen gewesen zu sein. Die Postfiliale an der Tela ist ja bekannt für ihre Warteschlangen bis auf die Straße.

Falls sich Giesing eines Tages ähnlich stark verändern sollte wie Ihr altes Haidhausen, wie würden Sie darauf reagieren?
Die Chancen stehen gut, dass ich hier bis tief in die Rente bleiben kann. Das ist die einzige Buchhandlung des Viertels. Daher hoffe ich, dass mich eine mögliche Gentrifizierung in Giesing nicht trifft. Die Tegernseer Landstraße wird nicht aussterben. Hier ist noch viel Leben, es entstehen regelmäßig neue kleine Läden.

Zum Schluss ein Lesetipp?
"Weit über das Land" von Peter Stamm. Das habe ich drei Mal gelesen! Die Geschichte eines Mannes, der abends nach dem Urlaub plötzlich aufsteht, geht und nicht zurückkehrt. Er hat nichts dabei und geht immer weiter. Faszinierend. Eine Phantasie, die vielleicht ganz viele Leute manchmal haben, alles hinter sich zu lassen und einfach loszugehen. Ohne Ziel.

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