Bezirksausschuss-Chefin Dullinger-Oßwald über Gentrifizierung in München-Giesing: "Wir sind kein neues Schwabing"

München/Obergiesing-Fasangarten - Carmen Dullinger-Oßwald hat nichts gegen die jungen Leute, die neuen In-Lokale rund um den U-Bahnhof Silberhornstraße. Im Gegenteil.
Sie will sich gerne in einem treffen zum Gespräch mit der AZ. Doch die Idee scheitert. Montagmorgen ist fast alles zu. Also geht's zum Wimmer-Bäcker an die Tegernseer Landstraße.
AZ: Frau Dullinger-Oßwald, seit Jahren heißt es, Giesing werde zum In-Viertel. Jetzt wollen wir hier am Montagvormittag Kaffee trinken und landen beim Wimmer-Bäcker an der Tegernseer Landstraße, weil alles zu hat. Kann es sein, dass es hier in Wahrheit immer noch wenige Dauer-Frühstücker gibt - und die allermeisten Leute einfach morgens in die Arbeit müssen?
CARMEN DULLINGER-OSSWALD: Hier wohnen noch viele ganz normale Menschen, die natürlich jeden Morgen zur Arbeit gehen. Das ist ja das Schöne: Es gibt viele Sozialwohnungen – und in den Neubaugebieten und in Alt-Giesing hippe junge Menschen. Es ist eine richtig gute Mischung. Aber: Wir sind sicher kein neues Schwabing.
"Um den Giesinger Grünspitz haben wir sehr hart gekämpft"
Wer Giesing nur als Besucher kennt, vom Ois-Giasing-Festival oder von Spieltagen der Sechzger, der überschätzt, was hier so los ist im Alltag?
Ja. Wir haben hier sehr viele ganz ruhige Tage, alles ganz normal. Und das wollen wir auch erhalten: das ganz normale Leben.
Was ist Ihr persönlicher Obergiesinger Lieblingsort?
Das ist der Grünspitz. Dass er so bleiben darf, wie er ist, dafür haben wir sehr gekämpft. Dort habe ich schon sehr viel erlebt. Nach und nach haben sehr viele Menschen entdeckt, was das für ein wunderbarer Ort ist, dass man ihn ganz frei genießen kann ohne Konsumzwang. Der Grünspitz ist einfach ein Treffpunkt für alle.
Viele Sommerstraßen funktionieren in diesem Sommer überhaupt nicht. Die Stadt sperrt Bereiche für Autos, aber niemand nutzt das. Der Grünspitz war ein Gebrauchtwagenparkplatz zwischen lauten Straßen. Wie konnte dieser Ort gelingen - und was können andere Viertel davon lernen?
Der Platz wurde eigentlich lange überhaupt nicht beachtet. In der Umgebung war kein Plätzchen zum Verweilen, man konnte sich wegen des Verkehrslärms kaum unterhalten. Deshalb suchen die Leute bisschen abgeschiedene Orte – wie das Bankerl am Tegernseer Platz vor der Post, wo man sich auch trifft. Am Grünspitz treffen sich ganz verschiedene Leute. Dort kann man ohne Vorschriften was machen, das ist doch toll in diesen Zeiten. Es ist ein freier Platz. Auch die Sechzgerfans treffen sich vor den Spielen da, müssen nichts anmelden, nichts zahlen. Das ist doch toll.
Giesing: "Über die Subsitutionspraxis gibt es inzwischen viel weniger Beschwerden"
Obergiesing ist noch alt-münchnerisch, in Teilen sehr migrantisch, wird jetzt an anderen Stellen aber auch immer geldiger. Ein Stadtteil der Gegensätze, einerseits. Andererseits beziehen sich viele Bewohner sehr positiv auf ihr Viertel. Was kann München da von Giesing lernen?
Man sollte versuchen, die Dinge überschaubar zu lassen, mit allen zu kommunizieren, es nicht zu schwierig machen.
Was meinen Sie da zum Beispiel?
Bei Informationsveranstaltungen über Veränderungen eine einfache Sprache anwenden, damit sich alle Bürgerinnen und Bürger mitgenommen fühlen. Zum Beispiel: Als hier eine Substitutionspraxis aufmachte und der Kiosk am U-Bahn-Ausgang zur halben Sozialstation wurde, da war der BA gefordert. Als Erstes hatten wir eine Infoveranstaltung für die Bürgerinnen und Bürger, Gespräche mit dem Gesundheitsamt und der Polizei. Wir haben alle mit ins Boot genommen und die Sorgen ernstgenommen. Die Beschwerden sind weniger geworden.
Der Rat an die Grünen in München: "Man muss auf die Menschen zugehen, für ihre Nöte einstehen"
Sie sind eine grüne BA-Chefin, das Giesinger Direktmandat holte bei der letzten Landtagswahl sensationell die Grüne Gülseren Demirel. Glauben Sie ernsthaft, dass die Grünen in alten Arbeitervierteln auf Dauer solche Erfolge erzielen können - oder war das nur ein kurzer Trend, vergänglicher Zeitgeist?
Nein, das glaube ich nicht. Ich bin ja schon vor Gülseren Demirel gewählt worden. Sicher kommen hier viele Grünen-Wähler aus dieser Ecke, Silberhornstraße, Ostfriedhof, den Neubauten am Agfa-Gelände.
Aber das alleine reicht nicht, um in Giesing zu gewinnen.
Genau. Ich bin sehr viel unterwegs, spreche mit den Leuten, lasse mich überall sehen. Gülseren ist auch sehr menschennah, wir waren zusammen in allen sozialen Einrichtungen.
Ihr Rat also an die Grünen-Parteifreunde, die ja oft und von vielen als abgehoben und elitär wahrgenommen werden?
Man muss auf die Menschen zugehen, für ihre Nöte einstehen, Lösungen anbieten.
Welche Rolle spielt die SPD noch, hier im alten Arbeiterviertel?
Dadurch, dass in Obergiesing-Fasangarten viele traditionelle Firmen weggezogen sind, wohnen hier nur noch wenige Arbeiter im herkömmlichen Sinne. Dementsprechend hat die SPD an Wählern verloren und nicht zu vergessen: Wir Grüne sind dazugekommen.
Das Riffraff übernehmen die Sechzger, die Stadtviertelchefin macht sich keine Sorgen um Giesings Kneipenkultur
Stichwort Kneipensterben: Die Stüberl sterben schon länger, jetzt macht mit dem Riffraff auch noch die größte alternative Szenebar Giesings zu. Hat das Viertel seinen Zenit schon überschritten, wird es jetzt immer mehr zum Lehel, noch schicker, noch toter?
Nein, das glaube ich gar nicht! Und das Riffraff übernehmen jetzt ja die Sechzger, das ist ja noch besser! Dann gibt es da beides – Vereinsleben und auch mal Barbetrieb. Beim Trepperlwirt denke ich, dass wieder was Ähnliches reinkommt. Und neben dem Schau ma moi, wo früher ein Schuster war, hat eben ein In-Café aufgemacht.
Die Giesinger Stüberl-Kultur stirbt trotzdem.
Das stimmt schon. Aber vielleicht ist dafür ja auch einfach nicht mehr so die Zeit. Gerade jüngere Menschen haben andere Bedürfnisse.
"Frustrierend" sei, dass an der Tegernseer Landstraße nichts voran geht
Friedrich Ani, der große Giesinger Krimi-Autor, hat mir mal gesagt, in Giesing gebe es deshalb so viele Stüberl, weil man sich so sehr vom Draußen ablenken muss. Muss man sich heute vielleicht in Giesing einfach gar nicht mehr so sehr vom Draußen ablenken?
(lacht). Wahrscheinlich ist das so, man braucht sie nicht mehr so sehr.
Wie sehr sorgen Sie sich um den Läden-geprägten Abschnitt der Tegernseer Landstraße, von der Silberhornstraße bis zum Ostfriedhof?
Es ist ein bisschen frustrierend. Wir wollen, dass hier ein Tegernseer Boulevard entsteht bis zum Ostfriedhof, aber es geht nicht voran.
"Die Straßenbahn auf der Tegernseer Landstraße soll langsamer fahren"
Wie würde der aussehen?
Wir wollen, dass vom Paulaner-Viertel die Leute rüberkommen. Hier gibt es ja fast alles, was man braucht. Was fehlt, ist, dass man die Straße einfach queren kann, wir brauchen solche Gehweg-Nasen in die Straße rein. Und: Die Straßenbahn soll das hier nicht mehr als Schnellstrecke nutzen.
Langsam fahren wie in anderen Städten durch Fußgängerzonen?
Genau! Wenn wir die Straße hier so behandeln, glaube ich an einen großen Erfolg. Wir haben hier ja noch viele ganz verschiedene, oft auch urwüchsige Geschäfte.
Reden wir über den anderen Abschnitt der Tegernseer Landstraße, über den Mittleren Ring. Vor Monaten haben Sie uns gesagt, nach Ihrem Eindruck hätte sich durch das Dieselfahrverbot wenig gebessert, jetzt wird nicht mal mehr die nächste Verschärfung durchgesetzt. Werden die Anwohner in Wahlkampfzeiten vergessen? Wurden sie nie ernstgenommen?
Was da passiert, ist ein fataler Fehler. Bessere Luft an der Tegernseer Landstraße ist so ein wichtiges Thema. Jetzt wird es endlich ein bisschen besser. Und jetzt hört man auf.

Dulliger-Oßwald zum Dieselverbot: "Wer spricht schon gerne Verbote aus? Aber manchmal ist dies notwendig"
Hat die Politik zu viel Angst, mit Verboten verbunden zu werden?
Na sicher, wer spricht schon gerne Verbote aus. Aber manchmal ist dies notwendig.
Wie ist die Stimmung bei den direkten Anwohnern am Ring?
Direkt am Ring wohnt eine sehr spezielle Klientel, die trauen sich gar nicht, irgendwas zu sagen. Auch wir tun uns schwer, da ins Gespräch zu kommen. Aber wir müssen versuchen, für diese Leute zu sprechen und uns einzusetzen.
Von allen Münchner Vierteln ist in diesen Jahren Untersendling wahrscheinlich das, das Obergiesing am ähnlichsten ist. Aber dort sind der neue Gasteig, die Alte Utting, ein paar Meter weiter das Volkstheater. Ist es sogar ein Segen für Obergiesing, dass Sie nicht solche Leuchttürme haben, die noch mehr neue Leute anziehen?
Ja, da bin ich froh darüber. Wir hätten gar keinen Platz für solche Leuchttürme und sie würden viel Unruhe ins Viertel bringen.
Unruhe mag der Giesinger eigentlich nicht so, oder?
Na, mir san hier gmiatlich. Wenn Ois Giasing ist und was los, das genießen wir, aber dann will man doch auch wieder sein Gewohntes. So ist der Mensch doch auch: Man braucht Highlights, aber man will doch auch wieder auf dem Sofa vor dem Fernseher sitzen.
Was ist eigentlich Ihr zweitliebstes Viertel?
Ich gehe eigentlich immer noch gerne nach Haidhausen, das ist mir sehr vertraut, es ist nah, man muss mit dem Radl nicht den Berg rauf und runter. Aber ehrlich gesagt: Eigentlich komme ich gar nicht viel raus aus Giesing.
"Der Tegernseer Platz muss attraktiver werden"
Was fehlt in Giesing?
(überlegt lange) Mir fehlt eigentlich nix. Wobei: Die Brücke, über die Martin-Luther-Straße, die wär schon toll als letztes Stück eines Naherholungswegs. Und der Tegernseer Platz, der muss noch attraktiver werden für die Menschen, die ihn täglich benützen.
Stichwort Sechzgerstadion. Der Ausbau ist ein Wahlversprechen der SPD, der Stadtrat hat sich grundsätzlich dafür ausgesprochen, voran geht aber nichts. Was ist da los?
Ich denke, es liegt an den Kosten. Die Stadt ist recht klamm.
Was nun?
Es gehört ohne Wenn und Aber renoviert, der Schallschutz muss verbessert werden.
Sport-Bürgermeisterin Verena Dietl klang zuletzt so, dass die Stadt, auch wenn sie sich nicht mit den Löwen auf einen großen Ausbau einigt, alle Plätze überdachen will.
Die Leute im Viertel nehmen schon auch sehr viel auf sich – und das Stadion liegt heute nicht mehr am Rand, sondern mitten in der Stadt. Der Schallschutz muss kommen. Und auf dem Grünspitz müssen Toiletten her. Wenn es sie nicht gibt, muss man sich bei den Massen auch nicht wundern, wenn alle schimpfen, dass überall hingepinkelt wird.
Die Stadtviertelchefin wünscht sich, dass die Räume unter den Tribünen des Sechzgerstadions für alle nutzbar werden
Was wünschen Sie sich noch, wenn der Stadion-Umbau konkreter werden sollte?
Wir können uns nicht mehr leisten, dass Räume unter den Tribünen die ganze Woche leer stehen. Dieses Stadion gehört allen, also sollte es auch von vielen genutzt werden. Warum soll da nicht unter der Woche eine Kita sein?
Was ist hier auf Giesings Straßen los, wenn Sechzig im Mai nächstes Jahr den Aufstieg feiert?
(lacht) Glauben Sie da dran? Also ich weiß ja nicht. Aber ehrlich gesagt: Mir ist das auch wurscht, ob sie aufsteigen. Das Schöne im Grünwalder ist einfach, dass man so nah dran ist, dass man die Spieler hören kann, dass man alles mitlebt.