58-Jähriger sucht mit Straßenwerbung einen Job

  312 Bewerbungen hat Erwin Schlipf (58) in den letzten zwei Jahren geschrieben – aber niemand möchte den IT-Fachmann einstellen. Deshalb macht er jetzt Straßenwerbung für sich selbst
Christian Pfaffinger |
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Einmal als Plakat und einmal in echt: Erwin Schlipf (58) will einen neuen Job und versucht es mit einer öffentlichen Bewerbung am Sendlinger Tor.
Gregor Feindt Einmal als Plakat und einmal in echt: Erwin Schlipf (58) will einen neuen Job und versucht es mit einer öffentlichen Bewerbung am Sendlinger Tor.

 

312 Bewerbungen hat Erwin Schlipf (58) in den letzten zwei Jahren geschrieben – aber niemand möchte den IT-Fachmann einstellen. Deshalb macht er jetzt Straßenwerbung für sich selbst

Altstadt - Seit sechs Uhr morgens steht Erwin Schlipf im Sperrengeschoss der U-Bahn am Sendlinger Tor. Sein Platz ist nahe eines Aufgangs. Von oben strömt Winterluft herunter, Erwin Schlipf friert, er knetet seine roten Hände. Es ist beinahe Mittag, viele Menschen sind schon an ihm vorbeigegangen, haben ihn angeschaut, manche sogar angesprochen. Aber er wartet noch immer auf den einen. Denjenigen, der ihm einen Job gibt.

 

Seit zwei Jahren sucht der 58-jährige Erwin Schlipf eine neue Arbeit. Er hat hunderte Bewerbungen geschrieben. Trotzdem bekam er bisher keine Stelle. Deshalb steht er jetzt hier, im Sperrengeschoss, verteilt Flyer und hofft, dass er angesprochen wird. Er macht Straßenwerbung für sich selbst.

„Mit 58 ist es nicht einfach, einen neuen Job zu finden“, sagt er. „Aber ich stehe hier, um zu zeigen, dass ich die Herausforderung meistern will.“ Hinter ihm an der Wand klebt ein großes Plakat mit einem Foto und einigen Zeilen: seine Kurz-Bewerbung. 719 Euro hat er dafür bezahlt, dass das Plakat elf Tage hier hängt.

„Mutig“, sagt ein Mann im Vorbeigehen. Ein anderer schaut eher verdutzt, zwei Jugendliche lachen. Erwin Schlipf stellt sich aus, sich und seine Arbeitssuche. Doch ihm macht das nichts aus: „Ich stehe gerne hier, weil ich unbedingt eine neue Arbeit will.“ Vor zwei Jahren verlor Schlipf seine Stelle in einem Krankenhaus. Der ausgebildeter Krankenpfleger und Datenverarbeitungskaufmann leitete dort die IT-Abteilung. Dann war Schluss.

„Ich habe versucht, gleich wieder eine neue Stelle zu finden, aber gemerkt, dass das in meinem Alter unglaublich schwierig ist“, erzählt er. „Also habe ich erst einmal eine Reise gemacht und ein eigenes Projekt aufgebaut.“ Er vermittelte Pflegekräfte aus dem Ausland an deutsche Haushalte. „Dann hat mir das Jobcenter eine SAP-Fortbildung empfohlen. Die hab ich natürlich gemacht.“

Nebenher schreibt Erwin Schlipf Bewerbungen. 312 seien es bisher gewesen, sagt er. Immer wieder sei er auch zu Vorstellungsgesprächen eingeladen worden. Aber am Schluss bekam er stets eine Absage. Offenbar auch, weil er den Personalchefs zu alt ist. Gesagt hat ihm das freilich niemand, darf auch keiner, denn das wäre diskriminierend. „Aber in den Absagen hieß es dann etwa, dass bei gleicher Qualifikation gewisse Details entscheiden würden.“

Frustriert ist Erwin Schlipf deshalb nicht. Er will nicht aufgeben, das merkt man, wenn man ihn bei seiner Eigenwerbung am Sendlinger Tor beobachtet. Immer wieder geht er auf Menschen zu, bietet ihnen Flyer an. „Geben Sie ihn doch Ihrem Chef weiter“, sagt er und lächelt dabei. Von einigen bekommt er Zuspruch, von vielen aber eine Abfuhr. Einmal geht ein ungepflegter, angetrunkener Mann auf ihn zu und fragt, was hier los ist. Erwin Schlipf bleibt höflich und erklärt. Als der Mann versteht, was die Plakat-Aktion soll, verliert er das Interesse. „Ach, geh doch in Rente“, ruft er im Weggehen.

„Auf keinen Fall“, sagt Erwin Schlipf danach. „Das wäre doch Verschwendung, wenn man erfahren ist und noch arbeiten will.“ Er knickt etwas mit den Knien ein und federt zurück, als wolle er sich selbst einen Anschub geben. Dann greift er wieder in die Manteltasche nach einem Flyer.

Bis jetzt hat ihm noch niemand einen Job angeboten. Deshalb wird er am Montag wieder hier stehen. Und für sich selbst Werbung machen.

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