350 Mark Miete, keine Zentralheizung: und trotzdem warm!
Das Gärtnerplatzviertel ist heute schick und angesagt. Aber wie sah es früher aus in der Isarvorstadt? AZ-Leserin Bettina Kenter erinnert sich.
Isarvorstadt - Es war keine feine Gegend, in die ich zog; und die 100-qm-Altbauwohnung schien mir mit 350 Mark monatlicher Miete (inklusive Nebenkosten) zu teuer. Aber: zentrale Lage, Tram und Bus! Und vor allem gemütlich war’s: das Rondell mit den rotblühenden Kastanien, Mittelpunkt des Straßen-Sechssterns, das hell erleuchtete Theater, die alten, wuchtigen Mietshäuser mit den verlotterten oder sorgfältig begrünten Hinterhöfen, der Radweg durch die Isarauen.
Hinter den dicken Wänden, in denen kein Dübel halten wollte, konnte man ungestört lachen und weinen, und lieben, und Musik hören, „Morning has broken like the first morning“…
Der Hinterhof-Balkon mit Blick auf die weinlaubberankten Nachbarhäuser und die riesige Akazie, in dem sich im Herbst die Stare sammelten.
Das Café am Eck, die Kultkneipe mit Bühne, das urige Kino, kleine Handwerksbetriebe, der Tante-Emma-Laden, das Antiquitätengeschäft, die Zoohandlung, die Wolpertinger verkaufte.
Der alte Mann namens Wolpertinger, der in seinem undefinierbaren Durcheinander-Laden Schlittschuhkufen schleifte, Kassettenrekorder reparierte und aus überquellenden Schubladen jedes denkbare nützliche Teil für die Kundschaft herauszog (nur Quittungen waren niemals auf Lager).
Die „Schenke“ unter uns, schlafraubend mit stets dem gleichen und stets zu lautem Gedudel: „Die kleine Kneipe in uuunserer Straaaße, da wo das Leben noch lebenswert ist …“
Die WG-Küche war nur mittels Backrohrs und ein Zimmer gar nicht zu beheizen. Aber wir hatten es immer warm, die Türen standen offen. Der Badgasofen war eine Wissenschaft für sich, die Dielen waren rau, die Wände eine Zeitlang violett.
Beim Fensterputz bröckelte der Lack vom Rahmen, doch die Aussichten waren gut und die Mitmenschen lustig: Künstler und Lebenskünstlerinnen, ein Rabbiner, alte Münchnerinnen mit ihren Zamperln, die Kräuterfrau, küssende Paare, ein Philosoph, Sängerinnen und Tänzer, der Schauspieler, der, einsam dahineilend, gestikulierend Texte durch die Straßen murmelte, Mütter mit Tragetuch und Kinderwagen.
Reinhold Messner, Rote und später auch Grüne, die türkische Änderungsschneiderin, Schwule und Lesben, edel gekleidetes Opernpublikum, die schottisch-irische WG nebenan.
Und, ach ja, die „Orangenen“ auch, Morgenröte in der Isarvorstadt.
Wo die Katze wirklich wohnte, wusste bald niemand mehr so recht: Raus aus dem Klofenster, übers Katzenbrett auf den Balkon, runter aufs Garagendach (unter dem der Kunstmaler malte und die Fotografin fotografierte) und runter auf den Hof, taubenjagend rüber auf die andere Seite und rein durchs offenstehende Fenster.
Mit dem neuen U-Bahn-Bahnhof tauchte die Frau auf, die, ein plärrendes Radio in der Hand, stets gutgelaunt und auch im Winter strumpflos, singend den Bahnsteig entlang tanzte.
Sommerliches Baden im Fluss. Dann, eine kleine Hand in der meinen, lernte ich mein Viertel neu und neue Vergnügungen kennen: Kaffeetrinken mit der Babysitterin, zum Tierpark radeln (und auf dem Weg die Enten füttern), Karussellfahren auf der Dult, und, später, rosa Elefanten auf graue Kindertagesstättenmauern pinseln.
1990 wurden wir entmietet. Was aussah wie privates Ungemach (oder einigen esoterischen Freundinnen zufolge karmisches Schicksal), entpuppte sich später als der Beginn der Gentrifizierung unseres Viertels.
Eine Ära ging zu Ende. Die kleine Hand in der meinen wanderte ich durch abendliche Straßen, rastlos nach so viel schwieriger Wohnungssuche. „Guck mal, Mama, der Mond geht immer vor uns her! Warum?“ Folgte er uns? Oder folgten wir ihm? Vergeht die Zeit? Oder vergehen wir in der Zeit? Ändern sich die Zeiten? Oder ändert sich alles, tosend und wirbelnd, in einer ewig lautlosen, stillstehenden Zeit?
Schic ist sie geworden, und laut, und teuer, die Isarvorstadt, das In-Viertel am Gärtnerplatz. Die einstige Wohnung ist Gewerberaum. Von den alten Freundinnen wohnt niemand mehr dort. Die meisten Lädchen sind verschwunden. Nur der „Siebte Himmel“, den gibt es noch. Und die Isarauen, und die Isar, und das Wasser, das plätschernd zum Meer zieht wie einst.
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