Stadlers Tagebuch aus Paris: Der Dudelsackblues
Michael Stadler war Kulturredakteur bei der AZ – bis er München verließ, um in Paris auf die Schauspielschule zu gehen. Hier schildert er, wie es ihm in der Stadt der Liebe ergeht. Teil 3 seines Tagebuchs: Der Dudelsackblues
Es gibt kein Entrinnen. Die Falle schnappt bereits am Place d’Italie zu, beim Tauchgang in die Unterwelt, runter und rein in die Métro, dieses ratternde Monstrum, das an jeder Station gnadenlos Menschen einsaugt und ausspuckt wie ein Toaster auf Speed. Die Menschen warten darauf, hinauskatapultiert zu werden. Aber bestimmt nicht auf ihn. Aber er wird kommen. Meine Linie, die Linie Cinq, die mit dem fröhlichen Orange, vom Place d’Italie Richtung Nordosten nach Bobigny, hat er besonders gern. Dieser Mann mit dem ewigen Dreitagebart, der ab dem frühen Mittag auftaucht, um nach drei bis vier Stationen wieder zu verschwinden. Die Waffe in der Hand. Er kommt, um deine Ohren und Nerven zu rösten. Der Mann mit der Gitarre.
Vierzehn Métro-Linien gibt es in Paris, 380 Stationen – da müsste man so einen doch maximal einmal im Leben treffen! Aber der Mann mit der Gitarre hat seit meiner Ankunft in Paris fünf Mal meine Fahrt musikalisch unterstützt. Immer mit dem gleichen Programm. Es geht los mit „Tom Dooley'. Nix Chanson. Country, mes amis. Zu Beginn war das noch unterhaltsam und nett. Als der Mann mit der Gitarre in mein Leben trat, lächelte ihm zu. Vertraute Klänge im Bauch der fremden Metropole. Ach, Paris – Stadt der Poeten und Künstler! Herrlich. Doch spätestens als er zum dritten Mal auftauchte, versteinerte mein Blick. Wenn man doch nur die Ohren schließen könnte: „Hang down your head, Tom Dooley…'
Heute mittag hat er mich erneut heimgesucht. Nach seiner Country-Show wandelt er durch die Gänge, Plastikbecher in der Hand. Er steht vor mir. Ich schaue stur in meine Zeitung. An der Station République steige ich aus, wandle durch die Gänge, an den Ständen vorbei, bis ich ihn höre, dann sehe. Ihn, der seinen Platz stets dort hat, wo sich die Gänge kreuzen: der Mann mit der Panflöte. Jetzt reicht’s. Ich beschließe, die Hintergründe zu recherchieren. Lisa, französische Mitschülerin, informiert mich, dass die Unabhängige Pariser Personentransportverwaltung, kurz RATP, mit den Terror-Entertainern die Anschläge aufs Ohr sogar abspricht, sprich: die Routen, die verschiedenen Linien werden an die Musiker vergeben, sogar Zeiten werden festgelegt, damit die Künstler sich angenehm aus dem Weg gehen können. Das erklärt, wieso der Mann mit der Gitarre meinen Weg permanent unangenehm kreuzt. Ich bin auf seiner Route, meistens zu seiner Zeit. Es gibt kein Entrinnen.
Verzweifelt komme ich nach Hause. Madame H. spielt mit sich selbst Scrabble. „Bonjour Madame!', rufe ich, „c’est de la catastrophe! Il y a terroristes dans le métro!' 'Quoi?', meint Madame H. und blickt mich über den Rand ihrer randlosen Brille an. „Le musicien dans le métro! Il joue tout temps tout la même chose! Qu’est-ce que vous faites contre ça?!' Eine Uhr tickt. 'Je prends le bus', meint Madame H. und spielt weiter.
Nachtrag: Heute abend, als ich von meinem Job heimfahre (ich gebe einem 10-jährigen Mädchen Deutschunterricht), bin ich leicht müde und melancholisch, wie man das eben manchmal in Paris so ist. Die Route fahre ich eher selten, von West nach Ost mit der Linie 10, der mit dem herbstlichen Braun, und während ich über nichts nachdenke, steigt ein dunkelhäutiger Mann ein und bläst auf einem Dudelsack eine traurige Weise. Tja, Paris. Hier findet jeder Exot seinen Platz, bei so vielen Fremden fühlt man sich eigentlich niemals fremd. Aber auch irgendwie nie zu Hause. Der Mann mit dem Dudelsack spielt weiter. Ich muss lächeln. Die Frau neben mir blickt versteinert in ihre Zeitung. Kein Entrinnen, jamais. Und während der Dudelsackblues meine Seele streichelt, überlege ich mir, ob ich dem Mann mit der Gitarre beim nächsten Mal nicht doch noch eine Chance geben sollte. Vielleicht sogar einen Euro.
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