Interview

Stadion an der Schleißheimer Straße: Warum die Chefs die WM-Spiele nicht zeigen wollen – es aber doch tun

Korruption, Diskriminierung, Ausbeutung und Fußball: Nur noch weniger als zwei Monate bis zum WM-Start in Katar. Das Stadion an der Schleißheimer Straße zeigt alle Spiele des Winter-Turniers. Gerne passiert das allerdings nicht, wie die Chefs im AZ-Interview erklären.
von  Fabienne Baumgärtner
Geschäftsführer Holger "Holle" Britzius (r.) und Michael "Michel" Jachan (l.).
Geschäftsführer Holger "Holle" Britzius (r.) und Michael "Michel" Jachan (l.). © Fabienne Baumgärtner

München - Jeder Münchner Fußballfan, der etwas auf sich hält, kennt es: das Stadion an der Schleißheimer Straße. Eine der bekanntesten – wenn nicht sogar die bekannteste – Fußballkneipe der Stadt. In dem Fußballmuseum mit Theke laufen manchmal bis zu drei Spiele parallel. Neben Live-Übertragungen gibt es dazu auch immer wieder Veranstaltungen wie Lesungen, Podiumsdiskussionen oder Quiz-Abende.

Die beiden Geschäftsführer Holger "Holle" Britzius (47) und Michael "Michel" Jachan (53) leiten das Stadion schon seit knapp 16 Jahren. 2017 haben die zwei Männer zudem das Wirtshaus "Obacht" – keine fünf Minuten vom Stadion entfernt – eröffnet. Holle ist der Fußballbeauftragte und Michel übernimmt die Verantwortung für das gemeinsame Wirtshaus am Eck.

In weniger als zwei Monaten, am 20. November, startet die höchst umstrittene Fußball-WM in Katar. Dann eröffnet der Gastgeber das Turnier gegen Ecuador. Wie geht das Stadion an der Schleißheimer Straße mit der Winter-WM um? Wird das Turnier boykottiert? Und wie stehen die beiden Chefs persönlich zum Turnier? Die AZ hat Britzius und Jachan zum Interview getroffen.

"Katar ist eine komplette Plastik-WM"

AZ: Servus erstmal! Die Fußball-WM in Katar rückt immer näher und es ist kein einfaches Thema. Es geht um mehr als Fußball, mehr als Sport. Wie intensiv habt ihr euch mit der WM auseinandergesetzt?
HOLGER BRITZIUS & MICHAEL JACHAN: Sehr intensiv. Es ist ein Thema, das uns sehr beschäftigt! Man muss darüber reden. Katar ist eine komplette Plastik-WM und mit der Jahreszeit an Sinnlosigkeit nicht zu überbieten, das ist keine Frage. Dazu kommen die runtergekühlten Stadien – und das in der aktuellen Zeit. Alles völlig absurd! Und jeder weiß ja auch, wie es zustande gekommen ist – durch Korruption. Noch schlimmer sind die Umstände in dem Land: tote Arbeiter, deren Behandlung sowie die Menschenrechte, die mit Füßen getreten werden.

Das sind ja schonmal klare Worte. Wie geht ihr mit der WM um?
Wir informieren uns schon lange über die Zustände und die Umstände der Katar-WM. Vor zwei Jahren hatten wir zum Beispiel Benjamin Best (Journalist und Fußballexperte, d. Red.) in unserem Podcast zu Besuch und haben uns mit ihm über das Thema ausgetauscht. Wir haben uns auch mit den Argumenten von Dietrich Schulze-Marmeling auseinandergesetzt, der eine Boykottaktion gestartet hat, und zwar von Anfang an – womit er vollkommen recht hat! Die Menschenrechte werden dort mit Füßen getreten – angefangen bei Frauenrechten, dem Verbot von Homosexualität bis hin zur Ausbeutung der Gastarbeiter und damit natürlich im Speziellen der Arbeiter, die seit Jahren unter übelsten Umständen Stadien und Infrastruktur errichten. Das ist alles mittelalterlich.

Apropos Boykott. Werdet ihr die Spiele in eurer Kneipe zeigen oder Katar boykottieren?
Wir werden die Spiele zeigen, alle! Der Hauptgrund ist, und da sind wir komplett ehrlich, wir können es uns nicht leisten, einen Monat dicht zu machen. Das geht einfach nicht – schon gar nicht nach der Pandemie. Das betrifft uns, aber auch unsere Mitarbeiter. Von der Energiekrise brauchen wir gar nicht zu reden…

"Auf die meisten, die jetzt sagen, sie boykottieren, kann man sich nicht verlassen"

Eine rein finanzielle Entscheidung also?
Wir sind eine Fußballkneipe, wir sind rein auf Fußball ausgerichtet. Wir haben auch nur offen, wenn Fußball läuft oder Veranstaltungen stattfinden. Wir sind keine Kneipe, wo man einfach mal so auf ein Bier hingeht. Der Fußball macht uns aus. Es ist keine leichte Entscheidung – wir sind mit uns selbst im Zwiespalt! Wären wir finanziell nicht abhängig, würde die Moral zu 100 Prozent siegen. Es würde mich wundern, wenn jemand freiwillig einen Monat auf sein Gehalt verzichtet, weil die Firma ein Projekt mit China hat und im Zweifelsfall nimmt man dann halt doch den Flieger von Qatar Airways wenn er billiger ist.

Keine Zeiten, in denen man sich Moral leisten kann. Wie wird es im "Obacht" laufen?
Im "Obacht" wird das anders laufen, da haben wir bis jetzt auch immer die deutschen Spiele übertragen. Aber nicht bei dieser WM! In einem Wirtshaus haben wir die Möglichkeiten nein zu sagen, das ist etwas anderes als in einer Fußballkneipe. Im "Obacht" wollen wir keinen verdammten Cent mit dieser WM verdienen! Und zuhause läuft das sicher nicht, dann doch lieber Rodeln.

Fußballfans feiern im "Stadion an der Schleißheimer Straße". (Archivbild)
Fußballfans feiern im "Stadion an der Schleißheimer Straße". (Archivbild) © Tobias Hase/dpa

Was sagen eure Gäste dazu? Würde ein Alternativprogramm statt der WM-Spiele niemanden anlocken?
Während der WM öffnen, ohne die Spiele zu zeigen und als Alternativprogramm Bier zu trinken, oder Spieleabende zu machen, oder alte WM-Spiele zu zeigen, würde sich nicht lohnen. Von ein paar Fans wissen wir, dass sie die WM boykottieren, aber ein Deutschland-Spiel ist hier jetzt schon ausreserviert. Das Interesse ist da! Jeder muss das für sich entscheiden – schau ich mir das an, oder nicht. Auf die meisten, die jetzt sagen, sie boykottieren, kann man sich nicht verlassen.

"Es gibt null Rechtfertigung für dieses Turnier"

Nach dem Motto, sobald der Ball rollt, wird das drumherum ignoriert?
Man blendet die Moral aus. Jetzt kann man eh nichts mehr ändern, jetzt ist es eh schon zu spät. Es ist wieder die Sache mit dem Einzelnen. Was soll das bewirken, wie bei so vielem. Die Fans wollen ihre WM. Man möchte sich unterhalten lassen, wie schon im alten Rom, aber da waren immerhin die Stadien nachhaltig! Wir möchten niemandem Heuchlerei unterstellen. Aber viele werden die Umstände dann wahrscheinlich einfach so hinnehmen, wenn es erstmal losgeht. Dann ist die Moral vergessen und es geht dann wieder um den Sport. Aber wir machen den Fußballfans keinen Vorwurf! Den Spielern kann man auch überhaupt keinen Vorwurf machen. Die meisten richten ihr Leben darauf aus, mal bei einer WM zu spielen. Wenn die WM dann in Russland oder Katar ist, dann ist das einfach scheiße, dann ist man in der falschen Generation geboren. Aber den Verbänden kann man einen Vorwurf machen und natürlich der FIFA!

Man sagt Sport wäre unpolitisch. Ziemlich widersprüchlich, oder?
Ja absolut, Sport ist super politisch! Die wollen uns wahrscheinlich einfach alle für dumm verkaufen, für ihr Renommee. Es ist wichtig, dass man darüber redet, auch wenn man die WM nicht boykottiert. Es muss kritisch berichtet werden. Am 17. und am 19. November finden hier Veranstaltungen statt, einmal über das Thema Fußball im Nahen Osten und eine Buch-Präsentation zur WM an sich, mit Fokus auf Katar.

Macht es eurer Meinung nach Sinn, eine WM in einem Land wie Katar auszutragen?
Nein, es macht keinen Sinn, gar keinen! Keine Fußballtradition. Es gibt null Rechtfertigung für dieses Turnier. Wir hoffen, dass das die Spitze des Eisbergs ist. Die Zuständigen wollen jetzt mehr auf Menschenrechte achten und die Vergabe soll anders geregelt werden – ein neues Konzept, bei dem nur noch ein bisschen beschissen werden kann. Investieren muss man immer. Modernisieren ist aber nochmal etwas anderes als komplett neu bauen. Alles im Sinne der Nachhaltigkeit. Aber was da in Katar läuft, mit Stadien runterkühlen und dem Fancamp in einem anderen Land, das ist Wahnsinn!

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Sport kann so viel bewegen: Das sollte man für etwas Gutes nutzen

Könnte es im November noch irgendwelche Überraschungen vor Ort geben?
Die Spieler dürfen keine politischen Statements setzten. Aber vielleicht boykottiert ja auch einfach die Nationalmannschaft und verliert drei Spiele, das wäre doch mal was. Dann kann man sagen, sie wollten gar nicht weiterkommen. (lachen) Es soll einen Bierausschank in den Public Zonen geben. Das ist auch wieder sowas. Hinter dem Alkohol steht ein großer Sponsor, da funktioniert das immer. Leider gibt es keinen großen Frauenverband, der die FIFA sponsert, vielleicht würde dann mal was passieren.

Habt ihr noch letzte Worte?
Die Zustände rund um diese WM sind absurd, es ist Katar scheißegal, wie die Stadien gebaut werden, Hauptsache sie werden gebaut – und der FIFA auch. Bei der Katar-WM geht es nicht um Sport, da geht es nicht um Fußball, da geht es nicht um die Fans, da geht es um Geld. Und so schade es auch ist, bei uns leider auch! Dabei kann Sport so viel bewegen. Das sollte man mal nutzen, um eine Veränderung zu bewirken – eine gute. Die European Championships in München, das war ein Traum. Einfach mal Sport. Fast keine Restriktion, keine Sponsorenscheiße, zumindest nicht übertrieben. Es geht also auch besser!

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