Spannen als Kunstform
München - Mit Ferngläsern auf den Nasen starren 15 Menschen auf dem Sankt-Anna-Platz in das Wohnzimmerfenster. Ein Mann tanzt dort mit seine Ehefrau vor dem Esszimmer-Tisch Boogie Woogie. Ihr Rock fliegt bei den Drehungen hoch. „Da schau, verrückt“, murmelt ein älterer Mann, der seinen Dackel Gassi führt. „Nein, das ist Kunst“, ruft eine der Frauen mit Fernglas. Und das ist es tatsächlich.
Im Rahmen der Opernfestspiele hatte die Staatsoper am vergangenen Wochenende zur Tanzveranstaltung „Living-Room Dancers“ eingeladen. Bühne waren sieben Wohnzimmer in der Innenstadt, in denen die Hobbytänzer ihr Können vor beleuchteten Fenstern zeigten. Mit Stadtplan, Fernglas und Mp3-Player mit passender Musik ging es für die kulturellen Spanner durch die Nacht.
Mit einem rosa Tuch wirbelt Bich Becker im pinken Trikot neben einem Drucker umher. Das Publikum auf der Straße schaut hin. Der Mann, der im Stockwerk über der Tänzerin wohnt, schaut zurück, holt sich ein Bier, schaut, öffnet das Fenster, schaut, zupft an seinen Vorhängen. „Der fühlt sich wahrscheinlich von uns belästigt“, sagt eine der Teilnehmerinnen und richtet ihr Fernglas jetzt auf seine Wohnung.
Inszeniert hat die Choreografin Nicole Seiler die Veranstaltung. Menschen von nebenan wollte sie zeigen. Tanz ist ihre Leidenschaft, aber nicht ihr Beruf. Der Takt schlägt manchmal anders, aber bei Kathrin Knöpfle gegenüber der Staatsoper fühlt man sich mitgerissen, wenn die Frau im Top vor dem Fenster die Arme schwenkt. Sie könnte sich auch warm tanzen für den Discoabend. Das Fenster ist ihre Bühne, ihr Spiegel sind die Operngläser.
In der Thierschstraße lehnen mittlerweile 20 Menschen an der Hauswand und lugen in den zweiten Stock. Die wenigsten von ihnen sind Besucher des Spanner-Happenings. An einer Striptease-Stange wirbelt Melanie in BH und Tanga. Szenenapplaus, die Tänzerin winkt huldvoll und verschwitzt aus dem offenem Fenster.
„Jungs, geht’s mal weg, wir schauen uns das für heut’ Nacht ab“, sagt eine Passantin. Ihre Freundin fragt nach fünf Minuten plötzlich: „Ihr habt Ferngläser dabei? Machen die das jeden Samstag hier?“ Die coole Antwort: „Nein, das ist von der Staatsoper organisiert.“ – „Aha...“ Jemand leiht einem Passanten den MP3-Player, damit er der passenden Musik lauschen kann.
In der Adelgundenstraße vor dem Hotel Opera werden die Zuschauer in die Büsche gedrängt. Von der kleinen Mauer aus sieht man die Tango-Tänzer Margit und Alexander am besten. Nur Äste schieben sich immer wieder ins Sichtfeld. Drei Mutige stellen sich schließlich direkt vors Fenster und glotzen, die Tänzer sind in sich selbst vertieft.
„Warum tanzt du nie so mit mir?“, fragt eine junge Frau ihren Partner. Er starrt weiter das Paar an. „Willst du eine ehrliche Antwort?“, kommt die Gegenfrage. Sie schweigt. Das Tango-Paar tanzt.
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