Sophie Scholls Jugend: Ein deutsches Jungmädel

Enge Gassen mit viel Fachwerk und steilen Treppen, uralte Tore und Türme, eine verfallene Burg, ein begehbarer Wehrgang und ein ausladender Weinkeller schmücken das von den Hängen des Kocher flankierte Städtchen: Forchtenberg im Hohenloher Land ist deutsche Romantik pur. Besonders malerisch sind das Heimatmuseum im Atelierhaus des bedeutenden Barockbildhauers Leonhard Kern sowie das cremefarbige Rathaus mit den später eingefügten Arkaden.
Im ersten Stock - heute Fest- und Sitzungssaal der 5.000-Seelen-Gemeinde, damals Schlaftrakt mit drei Kammern - wird genau vor 100 Jahren am 9. Mai 1921 als viertes Kind des Bürgermeisters Robert Scholl (1891-1973) und seiner Frau Magdalena (1881-1958) ein Mädchen geboren, das eine Lichtgestalt in finsterster Zeit werden soll und längst das weltberühmte Idol junger Menschen ist. Der Taufname ist Sofie Magdalena. Erst ab 1940 wird sie sich selbst Sophie Lina Scholl schreiben.
Sophie Scholl: Ihr Vater verachtet jeglichen Nationalismus
Der Vater ist sowohl liberal als auch christlich geprägt. Er neigt einer aufgeklärten Demokratie zu und verachtet jeglichen Nationalismus, besonders den im Braunhemd, was ihm nach eigener Erkenntnis eine "fast unlösbare Verfeindung" einbringt. Als Person verkörpert er wohl jenen fränkisch geprägten Menschenschlag in diesem Grenzraum Württembergs, den der dort beheimatete Theodor Heuß, der erste Präsident der Bundesrepublik, einmal so beschrieben hat: "Gescheit, lebhaft, aufgeweckt, etwas rechthaberisch und selbstbewusst".
Mutter Magdalena Scholl, bis zur Ehe als Diakonisse tätig, erzieht ihre sechs Kinder gut protestantisch. Menschlichkeit und Toleranz sind Grundwerte bei den Scholls. Am liebsten aber holt sich das Mädchen bei seinen Aktivitäten Rat vom drei Jahre älteren Bruder Hans, der bei der Bündischen Jugend mitmacht, später bei der Hitlerjugend. Wandern, singen und musizieren, das gefällt ihr. Mit Hans führt Sofie lange Gespräche über Gott und die Welt, in späteren Jahren auch über den Nationalsozialismus und die aktuelle Politik, was sie vollends vom amtlich gepredigten "Glauben an Deutschland" wegbringen und in eine ganz andere Richtung lenken wird.

Früh erwacht in dem gescheiten Kind auch die Liebe zur Natur, zum Sport, zur Literatur, zur Religion. Ja, sie ist fromm. Nach der Hauptmesse in der evangelischen Michaelskirche geht's meist noch ins "Kinderkirchle". Mit dem Schlitten saust Sofie die Kirchenstiege runter und landet fast im Flüsschen Kocher. Einer ihrer Lieblingsspielplätze ist die romantische, private Ruine überm Städtchen. Ein Foto zeigt sie auf einen Baum kletternd. Gern besucht sie ihre Oma Sofie Müller in Künzelsau, werkelt in deren "Gärtle", sie mag Blumen und kleines "Getier". "Ein sonniges Ding", schreibt die vier Jahre ältere Schwester Inge ins Tagebuch. "A Buabemädle", meinen andere Leute.
Heute ist Forchtenberg voller Gedenkplätze. Ein Themenlehrpfad, dessen zwölf Stationen mit Rosenstöcken bepflanzt sind, eine Ausstellung im schönen Würzburger Tor und regelmäßige Rundgänge führen zu Spuren der Scholl-Kindheit.
Die Künstlerin Renate S. Deck, die ihr Atelier in dem über 400 Jahre alten Turm hat, könnte eine Menge über das kurze Leben der Sophie Scholl erzählen, wenn es die örtliche Corona-Lage erlauben würde. Gedenktafel und Büste finden sich im Rathaus. Der Landkreis - bei der jüngsten Wahl ging das Direktmandat von Schwarz an Grün - bietet noch mehr Gedenk-Orte zur Vorgeschichte eines Widerstands.
1932: Bruder Hans wird in die Hitler-Jugend aufgenommen
1930 wählen die Forchtenberger ihren politisch unliebsamen Bürgermeister ab. "Sie fühlten sich in ihrer mittelalterlichen Ruhe gestört", meint Inge Scholl. Daraufhin übersiedelte die siebenköpfige Familie nach Ludwigsburg. Robert Scholl kennt die Schlösser- und Dichter-Stadt gut, weil er, der Pazifist, Ende des Weltkriegs verwundete Weltkriegssoldaten im dortigen Lazarett versorgt hat und dort auch seine spätere Frau kennenlernte.
Im März 1932 zieht die Familie weiter nach Ulm, wo sich Robert Scholl als Wirtschaftsprüfer und Steuerberater beworben hat.
Es dauert nicht lang, bis sich die beiden ältesten Scholl-Kinder von den Fahnen, Fanfaren und Liedern der auch in Ulm erfolgreichen Nazi-Partei beeindrucken lassen und deren Uniform anziehen. Hans wird in die Hitler-Jugend (HJ) aufgenommen, Inge in den "Bund Deutscher Mädel", aus dessen Abkürzung BDM halbwüchsige Pimpfe das dumme Scherzwort "Bubi drück mich" ableiten. Hans gerät in ernsthaften Streit mit dem Vater, der immer wieder ein Hitler-Bild abhängt. Inge bietet in der Schule einen Vortrag über Hitler an.
Und die zwölfjährige Sofie? Die besucht im Januar 1934 erstmals einen Heimabend der "Jungmädel", wie sich die Vorstufe des BDM nennt. Mutter muss die vorgeschriebene, durchaus fesche Uniform kaufen. Das Dabeisein ist mehr Kür als selbstverständliche Pflicht. "De Pfundskerle in der Schul waret halt bei die Nazis...und deshalb hat ma halt au mitgmacht", zitiert eine Ulmer "Geschichtswerkstatt" eine Freundin von Sofie. Um diese Zeit soll schon 33 Ulmer Bürgern die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen worden sein. Im Mai ist das KZ am Heuberg überfüllt.
Volkstänze und Wanderlieder, viel Sport und Geländespiele, Trommeln und Fanfaren, die Große Fahrt mit Tornister und Lagerfeuer, ja, ein solches Gemeinschaftsleben kann natürlich ein "Jungmädel" faszinieren - genau so wie es den Schreiber dieser Zeilen einige Jahre später beim "Jungvolk", einer Vorschule der ab vierzehntem Lebensjahr verbindlichen HJ, einst begeistert hat. Allerdings will sie nicht, wie erwünscht, die Haare zu Zöpfen und diese zu einem altmodischen Kranz binden; sie bleibt beim Bubikopf, wie er bei rebellischen Frauen vor der Hitlerzeit üblich war.
Sophie Scholl kümmert sich um die Ärmeren
Laut ist ihre Empörung, das bestätigen zwei Zeugen, weil ihre blonde, blauäugige Freundin Luise Nathan als Jüdin nicht im BDM mitmachen und Heinrich Heine in den Heimabenden nicht gelesen werden darf, "nur weil er ein jüdischer Dichter ist". Selber verschlingt sie Bücher von Thomas Mann, Stefan Zweig, Rilke und Claudel. Ein Klassenkamerad ihres Bruders Werner, Otl Aicher, macht sie mit christlichen Klassikern wie Augustinus und Thomas von Aquin bekannt.
Vielseitiges Interesse und Engagement tragen sicherlich dazu bei, dass die 14-jährige Sofie im Jahr 1935 zur "Jungmädelschaftsführerin" befördert wird. Sie schwimmt, kraxelt, zeichnet, spielt Klavier und Klampfe, sie will sich halt "ab und zu mal austoben". Wenn es unter ihrer Führung auf "Fahrt" geht, sorgt sie dafür, dass auch die Ärmeren bei der Verpflegung nicht zu kurz kommen, erinnert sich Eva Amann, eines ihrer zehn Mädels.
Der ältere Bruder ist, jedenfalls zunächst, noch mehr begeistert von dem völkischen, wandervogelartigen Gehabe der Hitlerjugend. Beim Nürnberger Reichsparteitag 1935 darf Hans, zum Entsetzen des Vaters, sogar die Fahne seines "Stammes" tragen. Jedoch: "Der unsinnige Drill und das dumme Geschwätz haben ihn vollkommen fertiggemacht", beobachtet Schwester Inge. Sofie sei daher "irritiert" gewesen, es habe einen "ersten Riss" in ihr gegeben.

Hans und Werner Scholl schließen sich nun einem Freundeskreis an, der sich auf die längst verbotene Bündische Jugend beruft. Die Gestapo erfährt von den "Umtrieben". Sie kommt im November 1939 ins Haus am Münsterplatz. Mehrere Geschwister werden abgeführt, zunächst auch die erst 16-jährige Sofie, und weitere Freunde festgenommen. Eine Woche sitzen die Jugendlichen in Stuttgart im Gefängnis. Inge Scholl: "Ich glaube, Sophie empfand unsere Verhaftung auch als Auszeichnung."
Mit der Gruppe "dj 11.1", wie sie sich verschwörerisch nennt, sympathisiert der 20-jährige Fähnrich Fritz Hartnagel, der die -vermeintlich parteiferne - Kriegsschule in Potsdam absolviert hat. In Fritz hat sich die vier Jahre jüngere Sofie 1937 beim Tanzen verliebt. Es wird eine Schicksalsgemeinschaft, die sich fast täglich in gefühlvollen Briefen ausdrückt - und bis zum Ende andauern wird.