So wählen die Münchner Obdachlosen
München - Das braune Recyclingpapier der Behörden mit der Überschrift „Wahlbenachrichtigung“ ist jetzt in fast alle Haushalte geflattert. Wer eine Adresse hat, der bekommt die deutsche Demokratie per Post geliefert. Doch wer sein Zuhause verloren hat, keinen Briefkasten, keine Adresse mehr besitzt, der kommt zu Joachim Dyllick.
In den schmucklosen Betonbau des Kreisverwaltungsreferats (KVR), in dem Dyllick sein Büro hat, muss jeder Obdachlose kommen, wenn er sein Kreuz machen will.
Spätestens zwei Wochen vor den Wahlen müssen obdachlose Münchner beim KVR einen Ausweis vorlegen und unterschreiben, dass sie seit mindestens drei Monaten in München leben.
Darüber hinaus müssen Obdachlose versichern, wo sie ihren, im Behördendeutsch, „gewöhnlichen Aufenthalt“ haben – damit ihre Stimme auch im richtigen Stimmkreis gezählt wird.
„Brücken, Unterführungen, Plätze, Isarufer, das werten wir wie Adressen“, sagt Dyllick.
Er schätzt, dass bei einer Bundestagswahl 200 bis 400 Menschen ohne festen Wohnsitz in München abstimmen. Bei Landtagswahlen etwas weniger, „wie bei dem Rest der Bevölkerung auch“.
Nur wenige Häuserblocks weiter, in der Teestube „komm“ zieht Franz Herzog ein bedrucktes DIN-A4-Blatt von der Wand ab. „Wohnungslose sollen ihre Wahlrecht wahrnehmen können", steht darauf. Es erklärt, wie Obdachlose wählen können. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe hat es verteilt.
„Der Zettel hing jetzt fast einen Monat in allen Stützpunkten der Teestube in ganz München, bei allen unseren Streetworkern und nicht ein einziger hat uns darauf angesprochen", berichtet Herzog.
Warum?
Wer ganz unten angekommen ist, der verliere oft das Vertrauen in die eigene Stimme. Wer tagtäglich erfahre, wertlos zu sein, beginne irgendwann auch seine Stimme für wertlos zu halten.
„Beim Leben auf Platte zählen andere Dinge mehr als die Zusammensetzung des Landtags“, meint Herzog. Dazu komme eine oft starke Abneigung obdachloser Personen gegen Behörden: „Viele schämen sich, zum KVR zu gehen und sich und anderen einzugestehen, dass man offiziell Obdachlos ist.“
Debatten über Politik gebe es auch in der Teestube, erzählt Herzog.
Andreas (Name geändert) stellt die abgewetzten prallen Plastiktaschen vorsichtig in eine Ecke. Handgepäck. Der Rest seines Besitzes quillt aus einem Einkaufswagen vor der Türe. „Warum sollte ich wählen gehen?".
Dann erzählt er vom Paternalismus der CSU, von Schröders Agenda-Politik, der Verwandtenaffäre im Landtag und der Euro-Krise. Politikverdrossenheit, wie sie die Demoskopen überall in Deutschland messen. Informierter trotzdem als mancher Stammtisch.
Er sagt: „Strafzettel, Schwarzfahrtickets, Vorladungen, stellen die alles zu. Die finden dich. Nur die Wahlunterlagen muss ich mir selbst abholen.“
Am Nachbartisch meint der Karl nur: „Wahlzettel kann man nicht essen.“