So leben Senioren in München: "Von 30 Stunden auf Null?" - Ausstieg aus dem Berufsleben
Die AZ startet mit einer neuen Serie: So leben Rentner in München, das beschäftigt sie. In der ersten Folge erzählt Marianne Kreibich: Sie ist seit Ende Oktober im Ruhestand – eigentlich. Tatsächlich arbeitet sie weiter. Ein Gespräch darüber, wie es ist als Seniorin in der Stadt.
München - Eine quirlige Straße in Neuhausen. Durchsanierte Altbauten, einige kleine Läden und Kneipen, um die Ecke der Rotkreuzplatz mit U-Bahn, Bussen, Tram. In einer geräumigen Mietwohnung im ersten Stock wohnt seit 35 Jahren Marianne Kreibich (65), verheiratet mit Rainer Kreibich (69). Die zwei erwachsenen Kinder sind schon lange aus dem Haus. 51 Jahre hat die Münchnerin als Buchhalterin gearbeitet, zuletzt in einer 30-Stunden-Woche. Vergangenen Monat, am 30. Oktober, endete ihr Arbeitsleben.
AZ: Frau Kreibich, seit drei Wochen sind Sie offiziell Rentnerin. Wie fühlt sich das an?
MARIANNE KREIBICH: Nicht so gut. Schauen Sie, ich arbeite, seit ich 14 Jahre alt war. Mir hat das all die Jahre Spaß gemacht. In der letzten Zeit war immer der Gedanke da: Ich bin noch nicht so weit. So weit, um – was denn?
Da war diese Angst, in ein Loch zu fallen und vielleicht den ganzen Tag im Schlafanzug daheim zu hängen. Ich habe das so lange verdrängt, wie es ging. Und dann einen Antrag auf Weiterbeschäftigung gestellt.
Hat Ihr Arbeitgeber da mitgespielt?
Meine Chefin war erfreut, Gott sei dank. Ich mache jetzt mit 18 Wochenstunden weiter statt mit 30. Befristet für ein Jahr, immer vormittags. Da kann ich mich langsam entwöhnen. Von 30 auf null Stunden? Das geht ja gar nicht.
Hatten Sie sich gar nicht gefreut auf die neue Freiheit ohne Job?
Früher schon. Mein Mann und ich, wir hatten geplant, dass wir anfangen würden, zu reisen und das Leben zu genießen. Aber es kam anders?
Er ist vor fünf Jahren schwer krank geworden, da war er erst 64. Man hat eine schwere Diabetes zu spät erkannt.
Wie geht es ihm?
Er spürt seine Beine nicht mehr. An den Händen fängt es auch an. Er ist wochenlang in der Klinik gewesen, kann kaum allein laufen und auch nicht gut selber essen. Ich pflege ihn jetzt in jeder freien Stunde.
Haben Sie keinen Pflegedienst, der Ihnen hilft?
Doch, aber nur für eine Stunde am Tag. Die Pflegekasse hat mir, solange ich berufstätig war, 14 Stunden Pflegearbeit pro Woche anerkannt und dafür Beiträge in meine Rentenkasse eingezahlt.
Wie viel bekommt man da?
Das waren 5250 Euro für Januar bis September. Aber seit ich Rentnerin bin, gilt das plötzlich als Ehrenamt! Es gibt kein Geld mehr, ist das nicht absurd?
Ehrenamt? Also bliebe Ihnen ab sofort nur noch Ihre Rente. Wie hoch ist die?
Ich bekomme netto 1450 Euro plus 200 Euro Betriebsrente. Dann kommt noch die Rente meines Mannes dazu. Plus ein Teilzeitgehalt für ein weiteres Jahr. Minus Miete. Minus 500 Euro im Monat für Medizin und Zuzahlungen, die die Kasse nicht übernimmt. Gott sei Dank haben wir einen alten, günstigen Mietvertrag.
Reicht das, damit Sie Ihren Lebensstandard halten können?
Ich denke schon. Ich weiß, dass um uns herum Senioren leben, die mit viel, viel weniger auskommen müssen. Mir blutet das Herz, wenn ich an der Supermarktkasse sehe, dass ein alter Mensch die Margarine nicht bezahlen kann. Wie es uns selber gehen wird, wenn wir mal einen Platz im Pflegeheim brauchen, daran mag ich noch nicht denken.
Nehmen Sie viel Altersarmut wahr in Ihrem Viertel?
Ja, wenn man die Augen nicht davor verschließt, ist das sehr sichtbar. Sie wohnen nah am Rotkreuzplatz.
Wie gut fühlen Sie sich dort versorgt in Ihrer Lebenssituation?
Wir haben einen tollen Hausarzt, der gut erreichbar ist. Und viele Einkaufsmöglichkeiten vor der Tür, das ist gut.
Kommen Sie auf der Straße gut zurecht?
Im Alter hat man einen neuen Blick auf die Umwelt. Junge Mütter mit Kinderwagen sind sehr rücksichtslos. Die gehen auf dem Gehsteig keinen Schritt zur Seite, wenn mein Mann auf dem Elektro-Dreirad unterwegs ist. Dabei kann er über den Bordstein nicht ausweichen, er stürzt sonst um.
Wie klappt Busfahren?
Da kämpft man an den Haltestellen zuerst mal mit den Radfahrern, die rasant durch alles durchfahren. Das nächste Problem sind dann die Busfahrer, die ihre Rampen am Bus nicht ausfahren. Öffentlich fährt mein Mann deshalb nur noch, wenn ich dabei bin.
Sind Sie zufrieden mit den Krankenhäusern?
Die Ärzte mögen gut sein. Aber wenn Sie hinschauen, stellen Sie fest, dass die tägliche Körperpflege bei den Pflegefällen häufig nicht gemacht wird, obwohl sie beauftragt wurde und auch notwendig ist.
Wenn Sie mal nur sich selbst betrachten – gibt es für Sie genug Freizeitangebote?
Ja, in Neuhausen geht’s uns gut. Ich gehe im Seniorentreff zum orientalischen Tanz, zum Yoga am Rotkreuzplatz und zum Tai Chi ins Alten- und Service-Zentrum. Wenn daheim der Notrufknopf gedrückt wird, bin ich sofort wieder zuhause. Die Entfernungen sind perfekt.
Was ist mit Kulturangeboten?
Gibt’s genug. Ich gehe drei, vier Mal im Jahr ins Theater, etwa ins Hofspielhaus in der Altstadt. Auch in Ausstellungen oder ins Kino. Und dass wir als Rentner günstigere Tickets bekommen, ist eine gute Sache.
Was sind für Sie große Aufreger-Themen in München?
Die Stadt sollte behutsamer mit dem Ausbau des Radverkehrs umgehen und dabei auch an die Ältesten denken. Ich sehe oft alte Leute mit Rollator, die vor den Radlern, die inzwischen überall sind, Angst haben. Die stehen wie erstarrt
am Gehweg und trauen sich gar nicht mehr, sich zu bewegen.
Ist die Wohnungsnot für Sie ein Thema?
Für mich selbst nicht, wir haben ja eine Wohnung. Und es ist klar, dass für die, die verzweifelt suchen, viel gebaut werden muss. Ich finde es aber genau so wichtig, das Grün in der Stadt zu erhalten und nicht alles zuzubauen. Wir brauchen diese Inseln wirklich dringend.
Sie sind SPD-Mitglied, arbeiten im Bezirksausschuss aber für die AGS mit, die Arbeitsgemeinschaft für Neuhausen. Wählen Sie die SPD noch?
Ja, und ich hoffe, dass die Partei nicht vergisst, dass das Soziale das Wichtigste ist. Ich möchte, dass sie darum kämpft, dass die Mütterrente (monatlich 25 Euro pro Kind, das vor 1992 geboren ist, –Red.) bei den bedürftigen Seniorinnen zur Grundsicherung dazu kommt, anstatt dass sie angerechnet wird. Alles andere ist menschenunwürdig. Die Genossen müssen sich wirklich mehr für Senioren ins Zeug legen.
Gilt das auch für Münchens SPD-OB Dieter Reiter?
Ich wünsche mir mehr Leute wie ihn. Er schwebt nicht über den Wolken, ich glaube, dass er versucht, für jede Gruppierung das Beste herauszuholen.
Kreibichl: „Ich weiß, wie schnell sich alles verändern kann“
Wer nervt Sie am meisten in der Stadtpolitik?
Ich lasse mich nicht nerven. Aber mich belastet das rechte Gedankengut bei der AfD. Meine Mutter war ein Flüchtlingskind aus Schlesien, sie hat mit 18 täglich die KZs bei Breslau gesehen und wurde bedroht, selbst da rein zu müssen. Sie ist als Flüchtling in München sehr ausgegrenzt worden. Ich bin deshalb sehr sensibel bei der Frage, wie wir mit Flüchtlingen umgehen.
Wenn Sie auf sich privat schauen: Wo sehen Sie sich in fünf oder zehn Jahren?
Ich schaue nicht so weit. Ich weiß ja, wie schnell sich alles verändern kann. Ich freue mich auf ein Wochenende nur für mich jetzt im Dezember, das mir die Kinder ermöglichen, weil sie in der Zeit meinen Mann versorgen.
Wie spannen Sie dort aus?
Da gehe ich in ein Seminarhaus und muss nichts tun, außer mir Frühstück vom Buffet holen. Nächsten Winter würde ich gern Helsinki im Schnee erleben. Weiter denke ich nicht.
Senioren-Zahlen über München
-
Rund 270 000 Senioren über 65 Jahre leben in München – jeder sechste Münchner ist also Rentner (71 000 sind über 80 Jahre alt). Nur ein kleiner Teil (rund 10 000) lebt in einem Alten- oder Pflegeheim oder in einem angeschlossenen „Betreuten Wohnen“.
-
72 000 Münchner Rentner gelten laut dem aktuellen Armutsbericht als arm oder armutsgefährdet (haben also weniger als 1350 Euro netto als Single zur Verfügung). Aber nur rund 15 000 davon haben Sozialhilfe (Grundsicherung) beantragt.
-
13 000 Münchner Rentner gelten als reich (über 4500 Euro netto als Single). Die anderen liegen dazwischen.