So geht's nach der Wahl weiter: Münchner Politikwissenschaftlerin klärt auf

AZ: Frau Riedl, Friedrich Merz hat noch nie regiert. Welche Eigenschaft wird er sich zwingend zulegen müssen?
JASMIN RIEDL: Staatspolitisches Auftreten. Er ist ja ein sehr starker Partei- und starker Oppositionspolitiker jetzt gewesen – mit der Tendenz, auch manchmal so ein bisschen zu polarisieren. In der kommenden Zeit muss er das Einigende, Verbindende und auch das Koalitionswillige und Kooperative deutlicher herausstellen.

Für eine Mehrheit braucht er wohl mindestens die SPD. Wie schwierig wird diese Zusammenarbeit, wenn man mal den Blick auf Migration, "keine Kompromisse", Bürgergeld und Steuerreform schaut?
Was vor der Wahl und in der Konfrontation zwischen Regierung versus Opposition gesagt wird, ist das eine. Generell sind Union und SPD über verschiedene Große Koalitionen hinweg sehr gut darin geübt, eine gemeinsame Regierung zu bilden. Ich bin mir sicher, das schaffen sie auch zukünftig.
"Die AfD ist weit weg von einer Sperrminorität"
Sollte es eventuell doch noch auf eine Regierungsbeteiligung der Grünen hinauslaufen: Wie kann CSU-Chef Markus Söder das dann seinen Wählern erklären?
Also sagen wir mal so: In der Konfrontation zwischen CSU und Grünen ist sehr viel Porzellan zerschlagen worden. Aber es ist nicht so, dass Markus Söder den Grünen immer programmatisch feindlich gegenüberstand. Erinnern wir uns nur an den Bäume-Umarmer und Schützer der Bienen. Deshalb gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder Söder schafft diesen argumentativen Dreh wieder. Er ist ja durchaus jemand, der Stimmungen sehr gut aufgreifen kann. Doch es dürfte außerordentlich schwierig werden, das der Wählerschaft von CDU/CSU zu verkaufen. Gelingt das nicht, müsste die CSU in der Regierung dauerhaft die Opposition geben, um ihrer Wählerschaft gegenüber glaubhaft zu sein. Damit torpediert sie aber den Zusammenhalt zwischen CDU und CSU.

Die AfD wird Oppositionsführerin. Was bedeutet das für den politischen Betrieb im Bundestag?
Konkret hat das Auswirkungen auf die Besetzung von Ausschüssen und anderen Gremien, bei denen das Kräfteverhältnis im Parlament abgebildet werden muss. Außerdem beeinflusst es die Rederechte und -zeiten. Wichtig ist aber auch, gerade mit Blick auf die Erfahrungen und Sorgen, die aus den Landtagswahlen im Osten herrühren: Die AfD ist im Bundestag weit weg von einer Sperrminorität.
Das Bündnis Sahra Wagenknecht BSW hingegen ist regelrecht abgestürzt. Was ist passiert?
Zweierlei: Die hohen Erwartungen und Hoffnungen, die anfangs in das BSW gelegt wurden, konnten nicht aufrechterhalten werden. Die Unterstützerschaft des BSW ist deutlich in Ostdeutschland verortet – und dort haben die Leute natürlich im Blick, was hinsichtlich der Regierungsbildungen auf Länderebene funktioniert oder nicht funktioniert hat. Da herrscht eine Art Enttäuschung. Hinzukommt, dass die Linke einen enormen Aufschwung erfahren und mit ihrem Spitzenpersonal rund um Heidi Reichinnek gepunktet hat. Auch im Parlament war sie sehr deutlich und präsent: Man denke nur an die Auseinandersetzung rund um den Entschließungsantrag und den Gesetzesentwurf der CDU/CSU Fraktion. Da hat die Linke ihre oppositionelle Haltung sehr stark kommuniziert. Außerdem waren die Umfragen zuletzt sehr gut für die Linke. Das hat zu einem sogenannten Bandwagoning-Effekt geführt: dass Wähler dazu tendieren, denen die Stimme zu geben, die mehr Aussicht darauf haben, ins Parlament zu kommen.

"Polarisierung ist nicht unbedingt immer schlecht"
Zeigt das gute Abschneiden der AfD auf der einen und der Linken auf der anderen Seite die Polarisierung der Gesellschaft?
In Teilen ja. Aber: Die AfD ist in Teilen eine rechtsextreme Partei, die Linke aber keine linksextreme. Da gibt es Unterschiede. Die Linke ist keine derart populistische Partei wie die AfD, die mit ihrer Ideologie und massiven Konfrontation regelrecht Stimmung macht gegen das politische Establishment, gegen Journalistinnen und Journalisten, also gegen all das, was man als Feindbild kreieren kann. Nichtsdestotrotz zeigt diese Stärkung der politischen Ränder eine Polarisierung, was aber nicht unbedingt immer schlecht ist. Es darf schon sein, dass politische Unterschiede deutlich werden – sowohl in der Gesellschaft als auch in der Politik und im Parlament. Wichtig ist nur, dass man nicht feindselig ist und da, wo es nötig ist, auch miteinander Entscheidungen treffen kann.

Wie lässt sich die hohe Wahlbeteiligung deuten?
Die Leute haben ein großes Interesse am Bundestagswahlkampf und an den Themen. Man darf aber nicht vergessen: Die AfD ist diejenige Partei, die am stärksten von der Nichtwählergruppe profitieren konnte. Sie hat mehr als 1,8 Millionen Nichtwählerinnen und Nichtwähler an die Urne gebracht.
"Auch die Wähler müssen sich bewegen"
Was muss die neue Regierung leisten, dass 2029 nicht – wie in Österreich – die Rechtspopulisten stärkste Kraft werden?
Die Themen angehen, die den Leuten unter den Nägeln brennen. Dass die migrationskritische Haltung so präsent ist, liegt ja auch daran, dass die Menschen ökonomische Sorgen haben. Da kommen dann Parteien wie die AfD und geben einfache Antworten wie: Wenn wir der Ukraine nicht mehr helfen und die Migranten aus dem Land befördern, haben wir mehr Geld. Darauf springen Menschen an, weil sie Angst haben, ob sie morgen noch die Butter bezahlen können, wie es zukünftig mit ihrer Arbeit aussieht, ob sie sich die Wohnung für den Studien- oder Ausbildungsplatz in der Stadt XY noch leisten können. Für die neue Regierung bedeutet das: Sie muss einerseits die wirtschaftlichen Themen angehen und andererseits den Leuten auch mehr Sicherheit kommunizieren mit Blick auf die Sorgen, die sie haben. Aber die Politik ist nicht allein für Lösungen zuständig, auch die Wählerinnen und Wähler müssen sich bewegen.
Inwiefern?
Wir befinden uns in gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Transformationsprozessen. Es gibt große Veränderungen. Beispiel Klimapolitik: Wir können nicht die nächsten 100 Jahre weiter Erdöl aus dem Boden pumpen und denken, das funktioniert alles und kostet nichts. Oder bei der Digitalisierung: Da gehen wir Dinge häufig nicht an, weil Sorge besteht, dass irgendjemand auf der Strecke bleiben könnte. Aber die deutsche Wirtschaft und wir als Industriestandort bleiben auf der Strecke, wenn in jedem anderen Land das Internet besser geht als bei uns.