"Schwul ist immer noch ein Schimpfwort"

Zwei Männer, zwei Frauen, zwei Generationen: Ein Gespräch über Diskriminierung, Machos in den eigenen Reihen und Outings vor der Schulklasse.
von  Tina Angerer
Im Gespräch (v.l.): Sabine Holm, Manfred Edinger, Antonia Netzer und Paul Herrmann mit der AZ-Redakteurin Tina Angerer.
Im Gespräch (v.l.): Sabine Holm, Manfred Edinger, Antonia Netzer und Paul Herrmann mit der AZ-Redakteurin Tina Angerer.

Zwei Männer, zwei Frauen, zwei Generationen: Ein Gespräch über Diskriminierung, Machos in den eigenen Reihen und Outings vor der Schulklasse.

München - Bunt, politisch und ein bisschen schrill wird es am kommenden Wochenende auf Münchens Straßen zugehen: Dann feiern zehntausende Schwule, Lesben, Bi- und Heterosexuelle den „Christopher Street Day”. Wie die Realität hinter der Parade aussieht, wollten wir von vier Münchnern wissen. Das Gespräch:

AZ: Elton John, Alfred Biolek, Hape Kerkeling, Klaus Wowereit, Karl Lagerfeld. Fünf wirklich prominente schwule Männer aufzuzählen, ist leicht. Wie sieht’s mit Lesben aus?
ANTONIA NETZER: Hella von Sinnen, Ulrike Folkerts, Ellen DeGeneres, naja, die kennt man jetzt mehr in Amerika... und dann natürlich Anne Will. Und es gibt noch diese Moderatorin vom ZDF-Morgenmagazin...da komm ich jetzt nicht auf den Namen.

Macht viereinhalb.
SABINE HOLM: Und Maren Kroymann.

Warum ist das bei Lesben schwerer als bei Schwulen?
ANTONIA NETZER: Die Lesben zeigen sich weniger.

SABINE HOLM: Ältere Frauen werden allgemein weniger wahrgenommen, ältere Lesben, die noch Kriegs- und Nachkriegszeit und damalige Repressalien erlebt haben, sind im Grunde unsichtbar.

ANTONIA NETZER: Es ist natürlich auch so, dass beim CSD nicht die Lesbe im schwarzen T-Shirt wahrgenommen wird, sondern eben der schrille Transvestit oder der Schwule mit nacktem Oberkörper, der Party machen will.

Wozu brauchen wir 2011 den CSD?
SABINE HOLM: Wir leben in einer doppelten Realität. Einerseits heißt es, was wollt ihr denn, das ist doch heute kein Problem mehr. Die Erfahrung von ganz vielen ist aber eine ganz andere. Beim CSD ist es deswegen wichtig, zu zeigen: Hier sind wir, wir sind stark, wir sind viele.

PAUL HERRMANN: Ich war mit 14 zum ersten Mal beim CSD, meine Eltern haben mich da abgesetzt. Ich mochte das, weil ich gesehen habe, wie viele das sind. Es war ein Tag, an dem es ganz normal war, weil alle so rumlaufen.

Ihre Eltern wussten damals, wo sie Sie abgesetzt hatten und warum?
PAUL HERRMANN: Ja, ich war sehr früh geoutet, meine Eltern fanden das nicht so spektakulär. Ich habe seit drei Jahren einen Freund, der sitzt jeden Sonntag mit am Kaffeetisch. Ich glaube, meine Eltern sind froh, dass ich eine feste Beziehung habe, rumvögeln fänden sie wohl nicht so toll.

ANTONIA NETZER: Schade ist, dass der politische Aspekt des CSD kaum wahrgenommen wird.
Was ist denn Ihr politisches Anliegen?

ANTONIA NETZER: Natürlich geht es uns besser, als in den meisten Ländern, aber voll gleichberechtigt sind wir nicht. Und Sabine Leutheuser-Schnarrenberger sagt, sie kann nicht mehr Rechte für Schwule und Lesben durchsetzen, weil sie dann Ärger mit dem Koalitionspartner kriegt. Ein Wahnsinn.

MANFRED EDINGER: Natürlich gibt es noch Ziele, für die man sich einsetzen muss. Aber bald sind wir voll integriert und leben glücklich – in einer schwierigen Gesellschaft. Das ist auch mein Kritikpunkt. Wir sind mal angetreten mit der Haltung, dass eine Gesellschaft, die Schwule und Lesben diskriminiert, vom System her nicht in Ordnung ist. Irgendwann redeten alle nur noch von „normal”. Jetzt sind wir normal und machen den gleichen Mist wie alle anderen.

Der Schwule muss der bessere Mensch sein?
Nein. Aber die Schwulenbewegung hatte mal einen anderen Anspruch. Wir wollten nicht nur schwul leben, wir wollten auch sonst anders sein. Heute sind schwule Männer männlicher als je zuvor – Machos ohne Ende. Es geht um Karriere, Geld und darum, wer gut aussieht. Und Merkel ist Kanzlerin, weil sie genauso ist wie Hetero-Männer. Das gilt auch für Westerwelle.

PAUL HERRMANN: In den Siebzigern sind eben Linke Intellektuelle in die Schwulenbewegung gegangen. Heute ist die Szene breiter. Es ist einfacher geworden, schwul zu sein und es outet sich auch der weniger gebildete Hauptschüler. Den interessiert Politik vielleicht gar nicht.

Frage an die Jüngeren: Haben Sie negative Erfahrungen gemacht?
PAUL HERRMANN: Nein. Ich wohne mit meinem Freund in einer Neubausiedlung, wo sonst nur junge Familien leben, da hat uns noch keiner schief angeschaut.

ANTONIA NETZER: Ich werde in der S-Bahn des Öfteren beschimpft.

Wie und von wem?
ANTONIA NETZER: Nachts in der letzten Bahn werde ich oft als „Mann” oder „Scheiß-Lesbe” bezeichnet. Von erwachsenen Männern, die mich nicht kennen und mich schubsen, nur weil ich nicht dem Mädchen-Klischee entspreche.

Wie reagieren Sie?
ANTONIA NETZER: Es überrascht mich jedes Mal wieder, dass Menschen so sein können. Wie soll ich da reagieren, im Zweifel bin ich die Schwächere. Mit meiner Ex-Freundin ist es mir passiert, dass wir mit Alkohol überschüttet und bis vors Haus verfolgt wurden.

PAUL HERRMANN: Ich habe da mal was Lustiges erlebt: Ich war mit meinem Freund nachts in der S-Bahn. 15-jährige Mädels riefen: „Hey, da sitzen ja Schwule” und als sie ausgestiegen sind, haben sie von außen ans Fenster geklopft, damit alle merken, dass da Schwule sitzen. Da hat eine alte Frau den Mädchen die Zunge rausgestreckt und gesagt, sie sollten mal schnell heimgehen, der Sandmann käme dann auch gleich.

MANFRED EDINGER: Das ist eine lustige Geschichte, die aber letztlich zeigt: Auch du hast etwas Negatives erlebt, auch wenn es nur 15-Jährige waren.

Frau Netzer, Sie machen Aufklärung in Schulen. Was fragen die Schüler?
ANTONIA NETZER: Als erstes kommt immer: „Bist du der Mann oder die Frau in der Beziehung?” – und ich versuche dann zu erklären, dass wir so nicht sind.
Sie studieren Lehramt. Werden Sie sich als Lehrerin auch sofort outen?

ANTONIA NETZER: Ich denke schon. Aber aus der Projektarbeit weiß ich, dass viele Lehrer nicht geoutet sind. Manchmal wissen es Kollegen, aber nicht die Schüler. „Schwul” ist immer noch das häufigste Schimpfwort an Schulen und wenn man sich als Lehrer outet, ist man angreifbar.

Also doch Angst vor Repressalien?
SABINE HOLM: Selbst ich überlege heute noch manchmal bei Leuten, die ich nicht so gut kenne, ob ich es sage oder nicht. Wenn du nichts erzählst, gehen aber alle davon aus, dass du hetero bist und du willst ja nicht als etwas wahrgenommen werden, das du nicht bist.

ANTONIA NETZER: Deswegen hört Outing ja nie auf, man tut es immer wieder.

PAUL HERRMANN: Ich versuche, das locker zu machen. Wenn mich jemand auf eine Party einlädt, sage ich: Ok, ich bringe meinen Freund mit. Und das regt niemanden auf.

MANFRED EDINGER: So einfach ging es eben ganz lange Zeit nicht. Deswegen musste man es früher so machen wie in dem Witz von Ralf König: „Erstens sind wir schwul und zweitens wollen wir ein Eis.” Wir leben in dem ständigen Konflikt, uns erklären zu müssen, weil man es ja nicht sieht.

PAUL HERMANN: Nachts um drei in der S-Bahn bin ich froh, dass man es mir nicht ansieht. ANTONIA NETZER: Nachts um drei in der S-Bahn ist aber auch für ein Hetero-Mädchen nicht der Traum.

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