Schweinegrippe: „Impfaktion ist ein Großversuch“

Unabhängige Experten werfen Politikern und Behörden völliges Versagen vor und raten von einer Massenimpfung ab. Die Schweinegrippe bedroht bisher offenbar nur chronisch Kranke
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Massenimpfung nein, Risikogruppen ja: So lautet der aktuelle Rat von Experten zur Impfung.
dpa Massenimpfung nein, Risikogruppen ja: So lautet der aktuelle Rat von Experten zur Impfung.

MÜNCHEN - Unabhängige Experten werfen Politikern und Behörden völliges Versagen vor und raten von einer Massenimpfung ab. Die Schweinegrippe bedroht bisher offenbar nur chronisch Kranke

Das Chaos ist perfekt: Unabhängie Fachleute werfen der Politik völliges Versagen vor. Und eine verunsicherte Öffentlichkeit weiß nicht mehr, was und wem sie eigentlich noch glauben soll. Der Auftakt der Impfaktion gegen den Schweinegrippe-Virus H1N1 ist gründlich schief gelaufen. „Die Impfkampagne war eine echte Kommunikations-Katastrophe“, sagt Nikolaus Frühwein, Präsident der Bayerischen Gesellschaft für Immun-, Tropen- und Impfwesen zur AZ: „Niemand hat sich um eine zentral gesteuerte Information gekümmert.“

Noch deutlicher wird der Arzt und Apotheker Wolfgang Becker-Brüser: „Diese Impfaktion ist ein Großversuch. Pandemrix ist ein teurer, ausgesprochen schlecht verträglicher Impfstoff. Wie häufig er schwerwiegende Störwirkungen hervorruft, ist derzeit nicht einschätzbar – alle anderen Beschwichtigungen über eine angeblich gute Verträglichkeit sind wissenschaftlich nicht haltbar.“ Das Fazit des Herausgebers des unabhängigen „arznei-telegramm“: „Die Politik hat sich viel zu früh ohne Not und ohne Kontrolle durch unabhängige Experten vertraglich auf den Impfstoff Pandemrix festgelegt, der zur Bekämpfung der Schweinegrippe unangemessen ist. Dieser Impfstoff hätte vermieden werden können und müssen." Für Becker-Brüser hätte es eine gute Alternative gegeben: Jenen Impfstoff ohne Wirkverstärker, der in den USA angewendet wird mit wesentlich weniger Nebenwirkungen und den jetzt auch deutsche Schwangere erhalten sollen.

Auch das Urteil von Wolf-Dieter Ludwig ist eindeutig: „Ich würde meine Kinder und Enkel nicht impfen, wenn sie gesund sind“, sagt der Vorsitzende der unabhängigen Arzneimittelkommisson der Deutschen Ärzteschaft (AKDÄ). „Ich bin kein Impfgegner, sondern nur gegen die Schweinegrippe-Impfung zum jetzigen Zeitpunkt.“ Bisher traten in Deutschland sehr häufig leichte Nebenwirkungen, aber auch einige hundert Fälle von schweren Ereignissen auf, darunter lebensbedrohliche allergische Reaktionen. „Der neue Wirkverstärker könnte deutlich stärkere Nebenwirkungen auslösen und womöglich zu einem Schub bei Patienten mit entzündlichen Erkrankungen wie Gelenkrheuma, Morbus Chron ode Colitis Ulcerosa (Darmkrankheit) führen“, befürchtet Ludwig.

Impfung nur nach individueller Beratung vom Arzt

Für wen ist die Impfung dann überhaupt sinnvoll? Nikolaus Frühwein sagt: „Jeder chronisch Kranke und alle, die solche Personen versorgen, sollten sich impfen lassen. Also keine Massenimpfung, da die Schweinegrippe bisher sehr milde verläuft – sondern nur nach einer Beratung durch den Arzt. Ich würde etwa dem Mann einer schwangeren Frau zur Impfung raten.“

Eine Gefahr bedeutet der H1N1-Virus offenbar hauptsächlich für chronisch Kranke: Auch die letzten beiden Todesopfer in Bayern, zwei Frauen im Alter von 57 und 78 Jahren in Regensburg, litten seit sehr langer Zeit an schwersten Vorerkrankungen. Übrigens: Das pharmakritische und unabhängige "arznei-telegramm" hat gestern die geheimen Verträge zwischen Bundesregierung, Landesbehörden und der Pharmafirma GlaxoSmithKline über die Bestellung des umstrittenen und sehr teuren Impfstoffes Pandemrix über 500 Millionen Euro öffentlich gemacht und ins Internet gestellt (siehe unten).

Fieber, Kopfweh, Atemnot und eine Gürtelrose

In mehr als zehn Prozent der Fälle rechnen Experten nach der Impfung gegen Schweinegrippe mit Kopfschmerz, Gelenk- und Muskelschmerz, Schwellung, Fieber und grippeähnlichen Symptomen. In noch mehr Fällen mit lokalen Armschmerzen rund um die Einstichstelle. Drei Betroffene berichten in der AZ über ihre Erfahrungen:

Susanne T. (32): „Ich habe mich an einem Freitagabend impfen lassen. 24 Stunden später habe ich stark gefroren, Fieber bekommen, mich total schlapp und abgeschlagen gefühlt. Das hat von Samstagabend bis Sonntagnachmittag gedauert. Dann war es plötzlich wieder weg. Nach 10 Tagen bekam ich Gürtelrose. Diese schmerzhafte Krankheit bricht dann aus, wenn das Immunsystem geschwächt ist. Mein Arzt hält einen Zusammenhang mit der Impfung für möglich. Es ist zeitnah, aber nicht beweisbar. Wenn ich das gewusst hätte, wäre mir eine leicht verlaufene Schweinegrippe lieber gewesen – eine Gürtelrose tut höllisch weh. Jetzt muss ich viele Artzney nehmen.“

"Zwei Tage außer Gefecht gesetzt"

Christine Brasch (50): „Ich habe mich vor 2 Wochen morgens um 8 Uhr impfen lassen. Ich wollte mich und einen chronisch kranken Angehörigen schützen. Ab mittags um 13 Uhr habe ich mich schlagartig matschig und müde gefühlt – ein bisschen wie angetrunken. In der Nacht kamen Glieder- und Kopfschmerzen dazu. Es war wie bei einer Erkältung, aber ohne Husten und Schnupfen. Das hat zwei Tage angehalten, dann war es genauso schlagartig wieder vorbei. Bekannten, die sich auch haben impfen lassen, ist es ganz genauso gegangen: Sie waren zwei Tage außer Gefecht gesetzt. Man sollte sich also nicht als Team oder als ganze Abteilung in der Arbeit gleichzeitig impfen lassen."

Oliver T. (21): " ich habe mich impfen lassen, weil ich als Asthmatiker zu einer Risikogruppe gehöre. Zwei Tage nach der Impfung habe ich plötzlich grippeähnliche Symptome, Atemnot und Husten bekommen. Ich war drei Tage krank - gegen die Atemnot habe ich dann meine Asthma-Medikamente nehmen müssen."

Dokumentation: Die Pandemrix-Verträge

Aus der Pressemitteilung vom arznei-telegramm: "Des Öfteren erhalten wir Anfragen, die die Bestellung des Pandemieimpfstoffes PANDEMRIX und die Ende 2007 geschlossenen Verträge zwischen Bundesregierung, Landesbehörden und GlaxoSmithKline betreffen. Die Vertragspartner verpflichten sich darin zur Geheimhaltung (a-t 2009; 40: 85-7). Wenn es um die Lieferung von Artzney geht, die der Gesundheit der Bevölkerung dienen sollen und für die rund 500 Millionen Euro aufgewendet werden, darf es unseres Erachtens jedoch keine Geheimhaltungsklauseln geben, nicht zuletzt auch, um zu verhindern, dass Behörden verschiedener Staaten gegeneinander ausgespielt werden. Auch sollten externe Experten in die Vertragsabwicklung einbezogen werden, um Fehlentwicklungen rechtzeitig erkennen zu können. Dass Risikogruppen wie Schwangere oder Personengruppen wie Patienten mit schwerer Hühnereiweißallergie bei der Planung der Massenimpfung schlichtweg vergessen worden sind und dass mit dem Wirkverstärkerimpfstoff PANDEMRIX ein Impfstoff bestellt worden ist, der wegen seiner schlechten Verträglichkeit zur Vorbeugung der Schweinegrippe unangemessen ist (a-t 2009; 40: 93-5), hätte vermieden werden können und müssen. Wer in die Verträge Einblick nehmen will, kann dies unter folgenden URL tun: www.arznei-telegramm.de www.arznei-telegramm.de Redaktion arznei-telegramm"

Michael Backmund

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