Schulschwänzer in München: Mit dem Streifenwagen ins Klassenzimmer

439 Schüler in München schwänzen regelmäßig die Schule. Pädagogen versuchen, an sie heranzukommen. Doch bei manchen geht’s nur noch im Streifenwagen zur Schule.
Ralph Hub |
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Auf dem Handy spielen und die Zeit vertrödeln: Manche Kinder gehen nur sehr selten in die Schule und drücken sich lieber auf der Straße herum. Wolfgang Goss (kleines Bild) betreut Kinder, die oft in der Schule fehlen.
dpa, rah Auf dem Handy spielen und die Zeit vertrödeln: Manche Kinder gehen nur sehr selten in die Schule und drücken sich lieber auf der Straße herum. Wolfgang Goss (kleines Bild) betreut Kinder, die oft in der Schule fehlen.

München - Nach Feierabend einfach nach Hause gehen und abschalten, das funktioniert bei Wolfgang Goss nicht. Der 48-Jährige ist Sozialpädagoge an der Mittelschule im Münchner Süden. Sein Job ist es, Schulschwänzer zu betreuen, ihnen zu helfen, wieder zurück in die Spur zu finden.

Rund 370 Kinder besuchen die Schule in Sendling, 80 Prozent haben Migrationshintergrund – etwa ein Fünftel davon sind Geflüchtete. "Das ist viel", sagt Wolfgang Goss. "Aber es läuft ganz gut bei uns." Der studierte Sozialpädagoge engagiert sich bei den Grünen und ist Mitglied im Bezirksausschuss Sendling-Westpark.

Schulschwänzer haben oft versteckte Probleme

Er ist Vaterersatz, Seelsorger, engster Vertrauter und manchmal die letzte Hoffnung der Teenager. Goss organisiert Nachhilfe, geht mit, um eine neue Brille oder Schuhe zu kaufen. "Oft haben die Eltern schlicht nicht das nötige Geld", sagt Wolfgang Goss, "dann muss ich mir etwas einfallen lassen." Vier chronische Schulschwänzer betreut er an seiner Schule. Bei manchen haben sich bis zu 40 Fehltage seit September angesammelt. Etwa 20 weitere Kinder fehlen gelegentlich im Unterricht.
Die Ursachen sind ganz unterschiedlich. Franz (Name geändert) kam von der Realschule. Ihm war immer schlecht. "Ich muss mich ständig übergeben, in der Schule, in der U-Bahn", erzählt der 14-Jährige. Immer öfter fehlt er. Seine Noten werden schlechter. Die Mutter weiß sich keinen Rat. Der Hausarzt findet nichts.

Doch der Sozialpädagoge der Caritas gibt den Schüler nicht auf. Schließlich hilft eine Psychotherapie. Nach drei Monaten werden die gesundheitlichen Probleme weniger. Inzwischen ist Franz auf einem guten Weg. "Er wird die Mittlere Reife schaffen, da bin ich mir sicher", sagt Goss.

Eine andere Schülerin, nennen wir sie Clara, erkrankt an Krebs. Eine Diagnose, die das Mädchen völlig aus der Bahn wirft. Monatelang schmerzhafte Behandlungen, Angst und kaum Kraft aufzustehen, geschweige denn, in die Schule zu gehen. Clara ist in der neunten Klasse. Ein Abschluss, eine Lehrstelle – all das ist nebensächlich und völlig egal. "In so einem Fall tut man sich schwer mit Sanktionen", sagt Wolfgang Goss.

Schulschwänzern kann ein Bußgeld drohen

Doch es gibt auch Schulschwänzer, die machen schlicht sprachlos. So wie jener 16-Jährige, dem der tägliche Weg zur Schule schlicht zu weit ist. Seine Mutter unterstützt ihn sogar noch bei den Flausen. Vier Stationen mit der U-Bahn zu fahren, das sei ihm nicht zuzumuten, argumentiert sie im Gespräch mit der Schulleitung. Andere glauben, sie könnten die Eltern austricksen. Sie verlassen morgens pünktlich ihr Zuhause, kommen in der Schule aber nie an.
Paul (Name geändert) wird jeden Morgen von einem Freund abgeholt. Trotzdem kommt der 14-Jährige selten pünktlich zum Unterricht. Er kauft sich lieber Kaugummi im Supermarkt. "Das sind Fälle, die viel Geduld und Aufmerksamkeit erfordern", erklärt der Sozialpädagoge.

Nachsitzen, Schulverweise, Mitteilungen an die Eltern – chronischen Schulschwänzern drohen sogar Bußgelder. "Sanktionen sind wichtig", betont Wolfgang Goss, "anderenfalls wäre die Schulpflicht nichts weiter als ein Papiertiger." Eine weitere Konsequenz sind Arbeitsstunden: Rasenmähen am Fußballplatz beispielsweise oder Aushelfen im Altersheim. Solche Strafen müssen allerdings Jugendgerichte verhängen.

Mit der Polizei in den Unterricht

Bei manchen Schulschwänzern hilft nur mehr die Polizei. Die Beamten fahren morgens zu den Eltern, klingeln und hoffen, dass jemand öffnet. Andernfalls müssen sie wieder abziehen. In Wohnungen eindringen dürfen sie nicht.
"Wir fahren die Jugendlichen dann im Streifenwagen zur Schule und liefern sie im Klassenzimmer ab", sagt Dominik Doll, Jugendbeamter bei der PI 11 in der Altstadt. Der Polizeiobermeister hatte eine Zeit lang einen 15-Jährigen zu betreuen. "Meist lag er noch im Bett, wenn wir morgens kamen", erzählt Dominik Doll.

Die wenigsten Schulschwänzer sind scharf auf so eine Spezialbetreuung und gehen nach wenigen Tagen lieber freiwillig wieder in den Unterricht. Für manche ist Schwänzen eine Mutprobe. Andere haben Angst vor Klausuren oder Prüfungen. Wolfgang Goss: "Es gibt aber auch Fälle, da lassen Eltern ihre Kinder nicht in die Schule, weil sie zu Hause gebraucht werden, weil sie auf kleinere Geschwister aufpassen oder weil sie bei Behördengängen dolmetschen sollen."

Jedem Schulschwänzer ist im Grunde genommen klar, dass er nicht ungeschoren davonkommt. Rudi, seinen echten Namen mag er nicht in der Zeitung lesen, vertreibt sich die Zeit lieber am Stachus mit Freunden. "Da gibt es freies WLAN, und es ist immer etwas los", erzählt der 17-Jährige. Gerne hängt er in Elektronikmärkten ab und probiert dort neue Videospiele aus. Den Anschluss in der Schule hat er längst verloren, an einen Abschluss ist nicht mehr zu denken. Im September ist Schluss, wenn ihn die Schule nicht schon vorher rauswirft.

Wo sich Schulschwänzer in München aufhalten

Auch Mädchen schwänzen die Schule. Allerdings weit weniger of als Buben. "Die Mädchen bummeln gerne durch Boutiquen", sagt Dominik Doll. Er läuft regelmäßig Streife in der Fußgängerzone. Doll ist 32, doch mit Vollbart und im Flanellhemd sieht er eher aus wie ein Soziologiestudent und nicht wie ein Polizist. Deshalb erkennen ihn Schulschwänzer oft nicht.

Manche versuchen, sich herauszureden. "Wir haben Freistunde", behaupten sie, oder: "Ich bin schon fertig mit Schule." Dumm nur, wenn sich durch den Rucksack die Schulbücher abzeichnen. Solche Kandidaten nimmt Doll mit zur Wache, zur Personalienfeststellung.

Der Hauptbahnhof ist bei Schwänzern besonders beliebt. Hier gibt es etwas zu essen, und im Trubel fällt man nicht so auf. Manche Schulschwänzer zieht es in eines der Wettbüros im Viertel. Ein Betreiber hat deshalb bereits Türsteher engagiert, um die Schulschwänzer am Eingang abzufangen.

"Ich gehe manchmal abends nach Hause und fühle mich wie ein Soldat, der vom Schlachtfeld kommt", sagt Wolfgang Goss. Aufgeben will er trotzdem nicht – und das aus gutem Grund: "Selbst die hartnäckigsten Verweigerer mögen im Grunde genommen die Schule, aber sie brauchen Hilfe, damit sie ans Ziel kommen."

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