Schule in München muss umziehen – Eltern haben Angst um ihre Kinder

München-Obersendling - Selten hat man ein so idyllisches Schulgebäude gesehen wie das der Grundschule an der Zielstattstraße, direkt am Südpark. Fast 60 Jahre ist es alt. Bullerbü-Romantik herrscht hier, mit einem grünen Pausenhof und alten, hoch gewachsenen Bäumen mit mächtigen Kronen.
"Die Schule im Grünen" nennt sich die Grundschule auf ihrer Internetseite. Auch einen Kindergarten gibt es hier, mehrere Hortgruppen – und fünf erste Klassen, die zum Schuljahr 2022/23 angefangen haben.
Die Schule muss umziehen: An eine sehr gefährliche Straßenkreuzung in München
Und hier liegt das Grundproblem. München wächst. Seit den Anfängen in den 60ern hat auch die Grundschule ihre Kapazitätsgrenzen längst überschritten. Einst wurde sie für zwei erste Klassen gebaut.
Zusätzliche Schulcontainer konnten die Platznot vorübergehend, aber nicht dauerhaft lindern. Die Stadt entschied sich gegen eine Erweiterung des sanierungsbedürftigen Baus und stattdessen für einen Abriss und Neubau.
Womit wir bei der Kreuzung des Grauens wären. Bis das neue und dann viel größere Schulgebäude in einigen Jahren fertiggestellt ist, zieht die Grundschule von der Zielstattstraße um, so hat es die Stadt beschlossen.
Das Interimsquartier ist ein zu Fuß etwa zehn Minuten entfernter städtischer Neubau an der Ecke Aidenbach- und Boschetsrieder Straße, der gerade fertiggestellt wird. Und der liegt an besagter Kreuzung. Bis zu 22.000 Autos passieren diese täglich. Unter vielen Eltern herrscht nun Aufregung.

Die Eltern haben Angst um ihre Kinder: "Natürlich werde ich es erstmal in die Schule begleiten"
Sie wittern eine deutlich höhere Unfallgefahr auf dem Schulweg, haben Angst um ihre Kinder. "Natürlich werde ich mein Kind erst einmal in die Schule begleiten, obwohl es schon alleine gehen könnte", sagt etwa Anna Schneider, Oberärztin am Klinikum Rechts der Isar.
Ihr Kind ist acht Jahre alt und kommt zum nächsten Schuljahr in die zweite Klasse. Auch die Mütter Nicole Graff-Keller, von Beruf Ernährungsberaterin, und Sonja Müller-Zelles, eine Kommunikationsdesignerin, sehen das so. Dutzenden Eltern der Grundschule geht es so. Das hat seine Gründe.
München: Selbst Erwachsene kommen über die riesige Kreuzung nicht in einer Ampelphase
Die Kreuzung hier hat bis zu acht Spuren sowie einen Platz in der Mitte der Fahrbahnen. Sogar Erwachsene, die auf der Nord-Süd-Achse über die Boschetsrieder Straße gehen wollen – etwa 25 Meter sind es – sollten das bei Grün schon im Stechschritt tun. Sonst wartet man auf dem breiten Mittelteil bis zur zweiten Grünphase. Hier verlief zwischen den Fahrbahnen früher eine Trambahn.
Eltern haben das beim Mobilitätsreferat angesprochen und gefragt, wie Kinder das schaffen sollen, ob man nicht die Schaltzeiten verlängern könne. Die Antwort: Die Schaltzeiten seien so berechnet, dass man die Mitte der zweiten Fahrbahn erreichen könne, bis für Fußgänger die Ampel wieder auf Rot schalte. Aber hier gelte eine Schutzzeit. Man könne bedenkenlos die Fahrbahn bis zur anderen Seite überqueren.
Die Eltern sind entsetzt: Kinder sollen bei Rot weitergehen?
Nicole Graff-Keller kann das nicht verstehen. "Sie wissen, wie Kinder sind", sagt sie, "wir erziehen sie doch so, dass sie bei Rot eben nicht über die Fahrbahn gehen sollen. Kinder werden nervös, drehen bei Rot um". Sonja Müller-Zelles fragt sich, ob sie ernsthaft ihrem Kind jetzt beibringen soll, dass es bei Rot doch noch über die Fahrbahn gehen könne. In diesem Punkt sehen die meisten Eltern die größte Gefahrenquelle.
Die Stadt baut unter anderem auf ehrenamtliche Schulweghelfer, die für Sicherheit sorgen sollen. Die Schule sucht über alle möglichen Kanäle, auch über die App "nebenan". Aber Helfer muss man erst mal finden. Graff-Keller ist auch hier erbost: "Die Stadt lässt die Schule bei dem Thema komplett alleine. Schule sowie Eltern müssen sich eigenständig um neue Schulweghelfer kümmern." Im Optimalfall bräuchte man sechs. "Wie sollen wir die finden?", fragt sich Anna Schneider.
Viele der Eltern hatten selbst schon kleine Unfälle an der Kreuzung
Entspricht der Eindruck der Eltern, dass diese Kreuzung eine Gefahrenquelle darstellt, der Realität? Die Eltern sagen ja. Einige hatten hier selbst schon kleinere Unfälle. Die Straßenführung ist – auch durch die jahrelange Baustelle – unübersichtlich und ändert sich oft, wie auch in den letzten Wochen.

Unfallbeispiele: Ostermontag, 10. April, 17 Uhr. Ein rotes Motorrad steht am Abend an der Kreuzung, angelehnt an der Ampel, auf der Nordseite der Boschetsrieder Straße. Augenscheinlich Totalschaden. Dessen 70-jähriger Fahrer wurde von einem Italiener (40) angefahren, der die Kreuzung mutmaßlich nicht gut kannte.
Sonntag, 2. Juli, 8 Uhr. Ein schwarzer Kombi steht auf dem Mittelstreifen im Gebüsch, in Sichtweite der neuen Schule. Auf der Kreuzung: ein weißes Fahrzeug. Sie waren zusammengestoßen. Den schwarzen Wagen hat es nach dem Aufprall ins Gebüsch geschleudert.

Wenn es so weitergehen würde, gäbe es hier bis zum Jahresende 30 Unfälle
Das könnten Einzelfälle sein. Statistik hilft, um noch besser einzuordnen. Eine Nachfrage bei der Polizei, ob man die Unfallzahlen an der Kreuzung über die letzten Jahre einsehen dürfte. Nach kurzem Zögern kommen sie.
Zwischen 2019 und 2022 ereigneten sich hier jährlich bis zu zwölf Verkehrsunfälle. Grob gesagt krachte es einmal pro Monat. Doch 2023 zählt die Polizei hier bis 3. Juli schon 17 Verkehrsunfälle. Sechs Kleinunfälle, vier Unfälle mit Sachschaden, sieben mit Personenschaden. Zwei Personen wurden schwer, vier leicht verletzt. Würde sich der Rhythmus fortsetzen, hätte man bis Jahresende mehr als 30 Unfälle.

"Sehr beunruhigend", sagt Graff-Keller. "Kein Unfallschwerpunkt", sagen Polizei sowie Stadt und weisen auf die Rolle der Großbaustelle. "Niemand konnte bisher zusichern, dass die Großbaustelle verschwunden ist, wenn die Schule startet", erwidert Graff-Keller.
Ach ja, es gibt eine abgesperrte, marode Unterführung unter dem Ratzingerplatz. Könnte man diese sanieren und die Kinder sicher unter der Straße hindurchleiten? Nein, die Stadt lässt sie zuschütten und einebnen. Einen Grund nennt das Baureferat nicht. Eltern erzählen, im Mobilitätsreferat habe es geheißen, eine Sanierung sei nicht wirtschaftlich.
Die Ampelschaltung könne man nicht verlängern, sagt die Stadt München
Das Mobilitätsreferat fasst auf AZ-Anfrage zusammen, wie hier die Sicherheit Hunderter Kinder zum Schuljahr 2023/24 gewährleistet werden soll: Eine Tempo-30-Zone werde rund um die Schule eingerichtet, außerdem eine Hol- und Bringzone für Autofahrer und ein breiterer Gehweg im Zuge des Radentscheids. Die Ampelschaltung könne man aber nicht verlängern. Sie sei erst kürzlich angepasst worden.