Schuldunfähigkeit, Täter schuldunfähig: Was es bedeutet, welche Folgen es hat

Am Dienstag, 10. April, beginnt in München der Prozess gegen Alexander B.. Er schoss rund ein Jahr zuvor bei einer Routine-Kontrolle an der u_bahn-Station Unterföhring einer Münchner Polizistin in den Kopf. B. gilt als schuldunfähig - die AZ erklärt, was das bedeutet.
von  Christoph Elzer
Polizisten stehen am 13. Juni 2017 vor dem S-Bahnhof in Unterföhring.
Polizisten stehen am 13. Juni 2017 vor dem S-Bahnhof in Unterföhring. © Peter Kneffel/dpa

Am Dienstag, 10. April, beginnt in München der Prozess gegen Alexander B. Er schoss rund ein Jahr zuvor bei einer Routine-Kontrolle an der U-Bahn-Station Unterföhring einer Münchner Polizistin in den Kopf. B. gilt als schuldunfähig - die AZ erklärt, was das bedeutet.

München - Eine der wichtigsten Regeln nicht nur des deutschen Strafrechts lautet "nulla poena sine culpa": Keine Strafe ohne Schuld. Nur, wer das Unrecht seines Handelns erkennen kann, darf auch dafür bestraft werden. Wer also beispielsweise jemanden umbringt und dabei eigentlich alle juristischen Merkmale eines Totschlags oder Mordes erfüllt, zugleich aber überhaupt nicht versteht, dass das Töten dieser Person gegen unsere Rechtsordnung verstößt, kann nicht als Totschläger oder Mörder verurteilt werden.

Wichtig ist dabei jedoch die genaue Beurteilung des Geisteszustands einer Person: Bloß weil jemand das Töten einer Person für gerechtfertigt hält, ist er oder sie noch lange nicht schuldunfähig. Das Töten beispielsweise aus religiösen Motiven heraus ("Gott wollte, dass der Ungläubige stirbt") ist kein Zeichen von Schuldunfähigkeit. Vielmehr ist sich ein solcher Täter sehr wohl bewusst, dass er eine juristische Straftat begeht, er erteilt sich nur selbst eine Absolution aus religiöser Überzeugung.

Anders wiederum sieht es bei einer Person aus, die beispielsweise unter Verfolgungswahn leidet. Diese Person ist unter Umständen überhaupt nicht mehr in der Lage in klassischen Dimensionen von Recht und Unrecht zu denken, sondern fühlt sich in ihrer Existenz bedroht und handelt dementsprechend schon fast instinktiv, also aufgrund ihres Überlebensinstinkts, der fälschlicherweise anschlägt.

Genau in einem solchen Fall ist es Aufgabe von Psychologen, den Täter genau zu untersuchen. Sie müssen feststellen, ob der Wahn der Person so weit fortgeschritten ist, dass sie zum Zeitpunkt der Tat überhaupt nicht mehr zwischen Recht und Unrecht unterscheiden konnte, oder ob diese Unterscheidung durch den Wahn lediglich eingeschränkt wurde. In letzterem Fall würde man von "verminderter Schuldfähigkeit" sprechen.

Schuldunfähigkeit, verminderte Schuldfähigkeit: § 20 und 21 StGB

Juristisch ist die Schuldunfähigkeit in Paragraph 20 des Deutschen Strafgesetzbuchs definiert. Er trägt den Titel "Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen". Darin heißt es: "Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln."

Dem gegenüber steht der Paragraph 21 StGB "Verminderte Schuldfähigkeit". Deren Auswirkungen definiert das Strafgesetzbuch wie folgt: "Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe [...] gemildert werden."

Zudem gelten Kinder unter 14 Jahren grundsätzlich als schuldunfähig gemäß Paragraph 19 StGB: "Schuldunfähig ist, wer bei Begehung der Tat noch nicht vierzehn Jahre alt ist." Die Besonderheit dieses Paragraphen ist, dass der Geisteszustand des Täters keine Rolle spielt. Bei einem so jungen Kind geht der Gesetzgeber davon aus, dass es in seiner geistigen Reife noch nicht weit genug vorangeschritten ist, dass es die volle juristische Tragweite einer Tat absehen kann. Ein Kind unter 14 bleibt also generell straffrei. Allerdings könnten den Eltern eines kindlichen Täters Erziehungs-Auflagen gemacht werden oder sogar das Kind entzogen werden.

Was sind "krankhafte seelische Störung", "tiefgreifende Bewusstseinsstörung", "Schwachsinn" oder "seelische Abartigkeit"?

Der Gesetzgeber kennt vier verschiedene geistige Erkrankungen, die laut § 20 StGB von juristischer Schuld befreien. Diese vier Varianten sind in drei Kategorien zu unterteilen:

Krankhafte seelische Störung

In diesen Bereich fallen vor allem Erkrankungen des Gehirns. Die prominentesten Beispiele wäre Alzheimer und senile Demenz, Schizophrenie und manisch-depressive Störungen. Hinzu kommen permanente, schwere Hirnschäden in Folge von Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenkonsum.

Tiefgreifende Bewusstseinsstörung

Diese Diagnose betrifft keine chronische Erkrankung, sondern eine punktuelle Bewusstseinsstörung zum Zeitpunkt der Tat. Beispielsweise weil der Täter schlafwandelte, im Affekt handelte, unter Schock stand oder sich in einer sonstigen Ausnahmesituation befand, die zu extremer psychischer Erregtheit führte.

Schwachsinn oder andere schwere seelische Abartigkeit

Unter diesem Punkt versteht der Gesetzgeber insbesondere die sogenannte Intelligenzschwäche. Diese ist juristisch nicht klar definiert, zumeist geht man jedoch bei einem Intelligenzquotienten von weniger als 70 Punkten von "Schwachsinn" aus. Ob eine Person von Geburt einen geringen IQ hat oder (zum Beispiel aufgrund von Missbrauch) trotz entsprechenden Potentials nie einen höheren IQ entwickelte, spielt keine Rolle.

"Andere schwere seelische Abartigkeiten" sind beispielsweise Triebstörungen, die so stark ausgeprägt sind, dass das Handeln der Person zum Tatzeitpunkt ausschließlich nur noch durch den Sexualtrieb gelenkt wurde. Auch Hörigkeit könnte unter diesen Punkt fallen.

Schuldunfähig in Folge von Alkohol- oder Drogenkonsum

In Paragraph 20 wird die Schuldunfähigkeit für Fälle geregelt, in denen der Täter infolge von Drogen- oder Alkoholkonsum so schwere Hirnschäden davongetragen hat, dass er nicht mehr zwischen Recht und Unrecht unterscheiden kann. Es gibt jedoch auch den Fall einer zwischenzeitlichen Schuldunfähigkeit infolge von übermäßigem Alkohol- oder Drogenkonsum unmittelbar vor der Tat.

Dieser Fall kann angenommen werden, wenn der Täter zum Zeitpunkt der Tat eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von 3,0 Promille hatte, beziehungsweise von 3,3 Promille im Fall eines Tötungsdelikts. Allerdings bedingt eine solche BAK nicht automatisch eine Schuldunfähigkeit, es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung. Ein Alkoholiker beispielsweise verträgt eine derart hohe Blutalkoholkonzentration schließlich deutlich besser, als ein ungeübter Trinker.

Bei einer BAK von 2,0 bis 2,9 Promille kann ein Fall von verminderter Schuldunfähigkeit gemäß § 21 StGB vorliegen, auch hier erfolgt jedoch eine Prüfung jedes einzelnen Falles. Genau wie Alkohol können auch Drogen zur Schuldunfähigkeit führen. Erneut gilt es, dies im Einzelfall zu prüfen beziehungsweise nachzuweisen.

Einen Sonderfall kennt die Rechtswissenschaft zudem unter der Bezeichnung "actio libera in causa", zu Deutsch "freie Handlung in der Ursache". Dabei geht es um den Fall, dass sich jemand bewusst intoxikiert hat, um anschließend eine Straftat zu begehen. Das kann beispielsweise passieren, um die zu erwartende Strafe zu mildern, also um sich anschließend auf Schuldunfähigkeit zu berufen, oder weil sich jemand "Mut antrinken" wollte. Ob eine solche "a.l.i.c." vorliegt, ist im Einzelfall zu entscheiden. Falls diese Prüfung positiv ausfällt, ist der Täter als voll schuldfähig zu bestrafen.

Täter schuldunfähig: Welche Strafe bekommt der Täter?

Sollten Psychologen und das Gericht zu der Einschätzung gelangen, dass ein Täter zum Zeitpunkt der Tat aus einem der zuvor genannten Gründe schuldunfähig war, so ist eine klassische Verurteilung nicht mehr möglich. Der Täter wird also beispielsweise nicht mit Gefängnisaufenthalt bestraft.

Stattdessen ist nach Paragraph 61 ff StGB eine Unterbringung möglich, beispielsweise in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt. Bei der Unterbringung gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 62 StGB), das heißt, sie darf nur angewendet werden, "wenn sie zur Bedeutung der vom Täter begangenen und zu erwartenden Taten sowie zu dem Grad der von ihm ausgehenden Gefahr" im Verhältnis steht. Einfacher ausgedrückt: Eine Unterbringung ist in der Regel nur dann möglich, wenn von dem Täter weiterhin Gefahr ausgeht.

§ 63 StGB: Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus

Falls das Gericht zu der Einschätzung gelangt, dass von dem Täter "infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist", kann die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet werden. Im Volksmund besser bekannt als geschlossene Psychiatrie.

§ 64 StGB: Unterbringung in einer Entziehungsanstalt

Drogen-, medikamenten- oder alkoholabhängige Tätern, die in Folge ihrer Sucht schuldunfähig waren oder sind, kann ein Entzug rechtlich verordnet werden. Das Gericht soll laut Paragraph 64 Strafgesetzbuch "die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anordnen, wenn die Gefahr besteht, dass sie [die Person] infolge ihres Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird." Diese Einweisung in eine Entzugsanstalt darf aber nur erfolgen, "wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, die Person durch die Behandlung [...] zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen".

§ 67d StGB: Dauer der Unterbringung

Eine Unterbringung in einer Psychiatrie oder einer Entzugsklinik darf niemals dauerhaft, also quasi lebenslänglich, erfolgen.

Für die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt sieht das Gesetz einen Höchstrahmen von zwei Jahren vor. Für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gilt zunächst eine Höchstgrenze von sechs Jahren. Diese kann jedoch überschritten werden, wenn von dem Täter weiterhin die Gefahr ausgeht, dass er "infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden oder in die Gefahr einer schweren körperlichen oder seelischen Schädigung gebracht werden". Spätestens nach zehn Jahren muss dann erneut geprüft werden, ob von dem Untergebrachten weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit ausgeht. Die Prüfung muss fortan mindestens alle zehn Jahre erneut erfolgen.

Nach der Entlassung aus der Unterbringung kann ein Richter die sogenannte "Führungsaufsicht" anordnen. Dies kann beispielsweise bedeuten, dass der Person ein Betreuer zur Seite gestellt wird (ähnlich eines Bewährungshelfers) oder dass die Person sich regelmäßig bei einer Aufsichtsstelle melden muss.

Schießerei S-Bahn Unterföhring: Was passiert mit Täter Alexander B.?

Sowohl die zuständige Staatsanwaltschaft München I als auch die Verteidigung halten den S-Bahn-Schützen Alexander B. für schuldunfähig. Vor Gericht wird es nun primär darum gehen, zu klären, inwieweit der Mann tatsächlich infolge seiner psychischen Erkrankung schuldunfähig und für die Allgemeinheit gefährlich ist.

Es ist bekannt, dass der Mann vor der Tat in der S-Bahn Selbstgespräche führte. Welche Form der psychischen Erkrankung bei ihm vorliegt und wie weit sie sein Handeln bestimmte, werden Psychologen vor Gericht darlegen. Sollten sie zu dem erwarteten Ergebnis gelangen, dass Alexander B. tatsächlich schuldunfähig war oder ist, so kann er nicht für die zur Last gelegten Taten (gefährliche und schwere Körperverletzung sowie versuchter Mord) verurteilt werden.

Er würde in so einem Fall gemäß § 67d StGB für viele Jahre in einer geschlossenen Psychiatrie untergebracht und erst dann wieder freigelassen, wenn von ihm laut Einschätzung der Ärzte keine Gefahr mehr ausgeht.

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