Schuldenberg unterm Nebelhorn

Die Tourismusgemeinde hat sich übernommen: Jeder Bürger ist mit 6000 Euro in den roten Zahlen, der Neubau der Seilbahn geplatzt
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Aussichtsplattform in 2224 Metern Höhe: Die Seilbahn, mit der schon mehr als 17 Millionen Menschen aufs Nebelhorn gefahren sind, wurde 1930 gebaut.
az Aussichtsplattform in 2224 Metern Höhe: Die Seilbahn, mit der schon mehr als 17 Millionen Menschen aufs Nebelhorn gefahren sind, wurde 1930 gebaut.

MÜNCHEN - Die Tourismusgemeinde hat sich übernommen: Jeder Bürger ist mit 6000 Euro in den roten Zahlen, der Neubau der Seilbahn geplatzt

An den Häusern im Ortskern blühen üppige Geranien. Durch die Straßen bummeln kernige Rentner mit ihren Wanderstöcken. Und wer in der Gemeindeverwaltung anruft, wird beim Durchstellen mit Volksmusik zwangsbeglückt. So kennt man Oberstdorf: Als Touristenmagnet in den Allgäuer Alpen. Als Paradies für Bergfreunde.

Doch hinter der schmucken Fassade brodelt es derzeit gewaltig. Die „Vorzeige-Gemeinde“ hat einen riesigen Schuldenberg aufgetürmt – mehr als 60 Millionen Euro. Vor zwei Wochen musste sogar eine Haushaltssperre für den Rest des Jahres verhängt werden. Neuinvestitionen sind nicht mehr drin.

Die Dimension der Finanzmisere am Fuße des Nebelhorns wird am deutlichsten, wenn man die Pro-Kopf-Verschuldung betrachtet: Bayernweit liegt diese bei durchschnittlich 3012 Euro. In der Landeshauptstadt München ist sie mittlerweile auf unter 2000 Euro gesunken. Dagegen hat Oberstdorf, das gerade einmal 9600 Einwohner hat, mehr als 6000 Euro Schulden pro Kopf angehäuft. Zahlen, die so manchem Bürger im Kneipp-Kurort ein Frösteln bereiten dürften. „Es rufen sogar schon Kurgäste an, die fragen, ob sie überhaupt noch kommen können: ,Weil, ihr seid ja pleite’“, erzählt der Kämmerer Martin Schmalholz.

Wie konnte es soweit kommen? Bürgermeister Laurent Mies, Anfang 40, ist erst seit Mai im Amt. Als Kandidat der Freien Wähler luchste der Rechtsanwalt der CSU den Posten ab. Trotzdem ist er bemüht diplomatisch, wenn er über das schwere Erbe spricht, das er antrat. Das klingt dann so: „Es gab Groß-Projekte, die für unsere Gemeinde-Größe ambitioniert waren.“ In einem davon sitzt er gerade. Denn die Verwaltung ist in einem top-modernen Gebäude-Komplex untergebracht – dem „Oberstdorf Haus“, das gleichzeitig auch Touristeninformation und Tagungsort ist. 14 Millionen Euro hat das Schmuckstück im Ortszentrum gekostet. „Ich hätte nicht in dieser Dimension investiert. Ein guter Kaufmann kalkuliert vorsichtig“, ist die einzige kritische Bemerkung, die Mies über die Lippen kommt. Sein eigenes Büro ist ganz schlicht, erinnert fast an ein Jugendzimmer.

Insgesamt fehlen für dieses Jahr 510000 Euro Einnahmen

Das zerstörerische Hochwasser 2005, der milde Winter 2006 und allgemein sinkende Touristenzahlen – all das belastete das seit langem hoch verschuldete Oberstdorf zusätzlich. Jetzt verpasste auch noch der Kernhaushalt der Gemeinde sein Ziel: Weil die Gewerbesteuer nicht so sprudelte wie erhofft. Und weil fest eingeplante Zuschüsse des Freistaats für die Wiedererrichtung von Brücken und Straßen nach dem Hochwasser niedriger ausfielen als erwartet. „Insgesamt fehlen uns für dieses Jahr 510000 Euro Einnahmen“, erklärt der Kämmerer Schmalholz. Trotz der verhängten Haushaltssperre werden wohl 200000 Euro Verlust ins nächste Jahr mitgenommen werden.

Der Tourismusbereich ist von dem sofortigen Ausgabenstopp nicht betroffen. Er hat ein eigenes Budget. „Aber umschichten können wir auch nicht, weil der Tourismushaushalt auch auf Kante genäht ist“, heißt es. Von einer bevorstehenden „Pleite“, wie regionale Zeitungen sie schon verkündeten, will Bürgermeister Mies trotzdem nichts wissen. Schließlich käme die Marktgemeinde auch weiterhin ihren „erheblichen Verpflichtungen“ nach. Die Rede ist alleine von 2,7 Millionen Euro Zinsen, die aufgebracht werden müssen. „Aber wir haben halt keinen finanziellen Spielraum, um uns auf Abenteuer einzulassen.“

Ein besonders prominentes Projekt ist wegen der klammen Kassen bereits geplatzt: Eigentlich wollte Oberstdorf sich am Neubau der Nebelhornbahn beteiligen. Die Talstation ist geprägt vom funktionalen Charme, wie man ihn als Münchner etwa aus dem alten Stachus-Untergeschoss kennt. Ein Betonklotz eben. Die Kabinen, die einen auf 2224 Meter Höhe transportieren, wirken ein wenig abgenutzt. Im Winter müssen Gondel-Gäste teilweise bis zu eineinhalb Stunden warten, bis sie in die Höhe schweben können. Auch der spektakuläre 360-Grad Blick über die schroffen Gipfel kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Investitionen lange überfällig sind.

Die Nebelhornbahn AG wollte von der total überschuldeten Gemeinde 5,1 Millionen Euro für den insgesamt 24,5 Millionen Euro teuren Neubau haben. Die bot 3,5 Millionen an und hatte vor, den Rest bei privaten Aktionären aufzutreiben. Seit wenigen Tagen ist klar: Man findet keinen gemeinsamen Weg. Die Nebelhornbahn wird nicht neu gebaut. „Gerade weil die Schulden der Gemeinde so hoch sind, müsste sie doch eigentlich zu neuen Ufern aufbrechen“, kritisiert Augustin Kröll, Aufsichtsratsvorsitzender der Nebelhornbahn AG. Schließlich seien alle in Oberstdorf – Bürger, Hotellerie und Gewerbe – die Nutznießer einer attraktiveren Bahn.

Im Schwimmbad gibt es nicht einmal eine Rutsche

Im Ort verfolgt man die Nachrichten der vergangenen Tage mit gemischten Gefühlen. „Mir macht das mit den Schulden schon Sorgen“, erzählt Yvonne Kamarys, die in einem Trachtenladen arbeitet. „Nicht dass das am Schluss auf die kleinen Leute abfärbt. Und man sich das Geld bei denen holt.“ Auch der Trachtenladen laufe schlechter als früher. Deswegen findet Kamarys, dass noch mehr unternommen werden müsse, um Touristen nach Oberstdorf zu holen. „Wenn nichts passiert, sind die jungen Leute im Winter irgendwann weg.“ Aus der Türe hinter dem Verkaufstresen lugt ihr kleiner Sohn hervor. Bemerkt er, dass Oberstdorf knapp bei Kasse ist? „Im Schwimmbad gibt es nicht einmal eine Rutsche!“

Hans-Christian Kreuzer vom Hutgeschäft Kreuzer sieht das Ganze gelassener. „So schlecht geht's dem Ort doch gar nicht. Ich kann pleite gehen. Aber doch nicht eine Gemeinde!“ Und auch den Uhrmacher Werner Hanke kann die Finanzmisere nicht erschrecken. „Andere Gemeinden sind zwar schuldenfrei, dafür haben sie aber viel verkommen lassen!“

So ähnlich klingt auch das Credo von Bürgermeister Mies: „Wir haben einfach mehr zu verlieren als andere, weil wir mehr haben.“

Julia Lenders

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