Schlusslicht in Kleingarten-Tabelle: Münchner zeigen ihr kleines Paradies

München - Willst du ein Leben lang glücklich sein, dann pflanze einen Garten, sagt ein Sprichwort. Oder auch: Ein schöner Garten wischt den Staub des Alltags von der Seele.
Noch vor zehn oder 15 Jahren verwilderten immer wieder aufgegebene Kleingärten in der Stadt - das Image der Schrebergärten war einfach zu spießig, die Vorgaben nervten. Inzwischen aber ist der Ansturm auf die Münchner Kleingartenvereine so groß, dass sie in ihre gläsernen Schaukästen Botschaften wie diese hängen: "Unsere Warteliste ist voll!"
Neue Gartler bringen Solar mit - es ist kein Strom in den Parzellen
Ein Grund dafür ist nicht nur die neue Lust am Garteln bei Familien mit Kindern und überhaupt jungen Leuten. Sondern dass München besonders wenig Schrebergartenflächen zur Verfügung stellt.

Mit 250 Quadratmetern im Schnitt sind die Parzellen an der Isar die kleinsten unter 20 deutschen Städten, das hat die aktuelle Untersuchung der Rasenfirma Halm herausgefunden. Und: Während in deutschen Großstädten auf 100 Einwohner 3,6 Gartenparzellen kommen, stehen 100 Münchnern nur 0,7 Kleingärten zur Verfügung, also ein Fünftel davon. "Kein Wunder, dass die Nachfrage in München sehr hoch ist", resümieren die Autoren.
Leben im Kleingarten - oft eine solidarische Gemeinschaft
Das süße Gärtnerglück beschreibt eine Münchner Hobbygärtnerin so: "Wenn ich in der Erde wühle, bin ich ganz bei mir. Ich mache die Dinge so, wie ich sie mir vorstelle. Ich habe dabei Ruhe. Niemand redet mir drein und ich bin in Bewegung. Dann sehe ich, was wächst und freue mich daran."
Was auch auffällt beim Spaziergang durch viele Kleingartenanlagen: Heute sind viele Gärten multikulti, viele Nationalitäten treffen sich hier und tauschen sich am Gartenzaun aus. Denn alle haben ähnliche Interessen und Probleme. "Das führt zu einer solidarischen Gemeinschaft", erzählen Hobbygartler.

Verschiedenes Gemüse - besser als aus dem Bio-Laden
In der Anlage "Villa Flora", zum Beispiel, kommt eine Krankenschwester aus Polen oft aus der Nachtschicht zum Gießen. "Ich bin auf einem Bauernhof groß geworden", erzählt sie. "Die Garten-Stimmung und dieser Geruch sind für mich Heimat - und ein Gefühl von Kindheit."
Auf ihrer Parzelle pflanzt sie Blumen, Zwiebeln, Salat und Tomaten fürs Abendessen. "Meine Garten-Tomaten schmecken aromatisch und super-saftig, daran reicht auch kein Bio-Gemüse aus dem Laden heran."
Die AZ hat Gärtner in zwei Kleingartenanlagen in Sendling besucht: die "Villa Flora" mit 120 Parzellen und den Verein "Land in Sonne II" nahe dem Audi Dome. Beide Vereine haben auch eine Gastronomie.

Der hauseigene Imker: "Ich verschenke Honig"
Der Gartenverein "Land in Sonne II" hat einen leidenschaftlichen Imker: Vor sechs Bienenstöcken summen seine Bienen. In anderen Gärten hat er weitere stehen. Bis zu 100 Kilo Honig verschenkt Osman Payam jedes Jahr an die Familie - und an viele Freunde vom Gartenverein in der Siegenburger Straße. "Mein Honig schmeckt ganz anders als der gekaufte. Das Aroma bleibt lange im Mund", sagt der Mann zufrieden.
366 Quadratmeter hat seine grüne Parzelle: Am Kirschbaum steht eine Leiter. Ein Plastikrabe verscheucht Vögel vom Maulbeerbaum. Der Grill wartet auf seinen Einsatz. Payams studierende Kinder haben eine Wasserpfeife zum Rauchen im Schrebergarten deponiert. Denn die Jugend kommt gerne zum Feiern - aber nicht zum Arbeiten.
Osman Payam seufzt: "Ich bin verrückt nach meinem Garten. Hier fühle ich mich gut." Der 60-Jährige aus Fürstenried-West hat nicht nur ein Erdbeerbeet und Riesen-Kohlrabis. Er pflegt auch einen Quittenbaum, erntet gute Weintrauben und blickt auf zwei Maulbeerbäume, die er aus der Türkei mitgebracht hat. "Süße Maulbeeren sind eine Delikatesse. Ein Kilo kostet 50 Euro!", erklärt er.

In der ganzen Anlage kennt und hilft man sich
Osman Payam kommt im Sommer fast jeden Nachmittag. Er jätet, er gießt, er besucht Nachbarn. Der Mann macht die ganze Arbeit für sein Auge, weil ihm sein Garten so gefällt: "Ich esse fast nichts. Das ist alles für andere", sagt der 60-Jährige. Bei der Stadt arbeitet er am Wald- und Südfriedhof als Totengräber. Die Arbeit mit der Erde lässt ihn nicht los. Als Kind einer armen Familie in Mittelanatolien hat er früh seinem Opa in der Landwirtschaft geholfen.
Zweige fährt er mit dem Radlanhänger auf den Wertstoffhof an der Tübinger Straße. Unterwegs auf den schmalen Wegen der Anlage trifft er Karl und Lydia Bauer. "Servus" grüßt Osman Payam. Er plaudert auch mit Hans Mierwald (77). Ein Herr, der stilvoll gekleidet, mit Strohhut, Hemd mit Hosenträgern und Gummistiefeln, mit der Gießkanne die Beete eines anderen gießt. Osman Payam sagt: "Ich bin so glücklich mit meinen Nachbarn. Alle sind freundlich." Und wenn er keinen Garten hätte? Dann würde er in anderen Gärten helfen - und ratschen.
Ein Minzbeet - für marokkanischen Tee
Sie haben eine Riesen-Flasche Spezi auf dem Tisch. Mehrere aufgerissene Packungen Gummibärchen liegen daneben. Sieben Schüler von der Karl-von-Linde-Realschule treffen sich im Schrebergarten. Sie haben sich mit Deutsch-Büchern und ihren Heften in Parzelle 37 der "Villa Flora" an der Tübinger Straße zum Pauken getroffen - die Abschlussprüfungen zur Mittleren Reife haben in München diese Woche begonnen.

Meriem (16) trägt ihre Haare als Pferdeschwanz und eine Brille mit schwarzem Rand. Sie hat ihre Mitschüler in das Kleingarten-Idyll ihrer Eltern eingeladen. Hier gibt es einen Kirschbaum, voller Kirschen und eine gepflegte Rasenfläche. Die Eltern bauen Tomaten an und haben Himbeerbüsche. In einer Ecke des Gartens liegt ein großes, zartduftendes Pfefferminze-Beet. "Wir nehmen die Minze für unseren marokkanischen Tee, den trinken wir viel", erklärt Meriem, die marokkanische Wurzeln hat. Die jungen Leute erhoffen sich vom gemeinsamen Lernen an der frischen Luft einen guten Effekt auf die Prüfungen, auch Mathe. Doch an diesem Tag sind die Deutsch-Stilmittel dran. "Was ist noch einmal eine A
lliteration?", "Stock und Stein", Meriem weiß es.
Privatsphäre mitten im Grünen
"Es ist zu warm. Ich ersticke, wenn ich zu Hause lerne im Sommer", sagt ein junger Mann mit Sonnenbrille. Ein Mädchen sagt: "Wir sind eine Großfamilie und zu sechst in der Wohnung. Im Vergleich dazu ist es hier echt ruhig. Außerdem beruhigt die grüne Landschaft. Das ist viel besser, als auf weiße Wände zu schauen." Auf der anderen Seite des Bretterzauns starten an der Kreuzung die Autos. Ist es nicht zu laut hier im Garten direkt an der Tübinger Straße? "Wir blocken die Straßengeräusche sehr gut ab. Ab und zu fährt ein Krankenwagen vorbei. Aber das stört uns nicht", sagt eine der Realschülerinnen.

Das Mädchen Meriem lobt die freundliche Nachbarschaft in der Kleingartenanlage. Denn kürzlich hat sie hier Geburtstag gefeiert. Mit ihren Freunden hat sie gegrillt und bis in die Nacht Musik gehört, "nicht zu laut". Niemand hat sich beschwert. Anders als im Park genießen die sieben Jugendlichen das Private am Garten, den eigenen Ort, wie einen Luxus. "Dieser Platz ist nie besetzt. Wir müssen ihn nicht mit vielen anderen Menschen teilen", meinen die jungen Münchner. Für sie ist das eine neue Erfahrung.
"Der Garten - ein Jungbrunnen"
Der Schnittlauch blüht. Die Himbeeren reifen. Die Warteliste ist zwar voll, doch vor fünf Jahren hatte Karl Beck Glück: Der pensionierte Allgemeinarzt bekam einen Kleingarten in der Anlage "Villa Flora" an der Tübinger Straße.
Gut gelaunt gräbt er Knoblauchknollen aus der weichen Erde. Er isst, was wächst, und alles ist bio: Bohnen, Zwiebeln und Radieschen hat er geerntet, Johannisbeeren auch. Der Salbei kommt in die Saltimbocca alla Romana. "Kalbsschnitzel und ein bissl eine Weinsauce", schwärmt Karl Beck aus dem Glockenbachviertel. Es wird viel gesessen und geratscht in seiner Oase. Der Naturfreund mag am Garten vor allem den sozialen Aspekt: "Wir tauschen Pflanzen aus, geben uns Tipps, wenn die Rüben oder die Erbsen nichts werden."
Tipps und Tricks von echten Profis
Immer um 15 Uhr gibt es eine "Kaffeetafel". Kürzlich hat die Nachbarin einen Erdbeerkuchen gebacken. An einen alten Baum hat sein Freund Jürgen eine üppige Bajazzo-Kletterrose gepflanzt. Sie blüht pink. "Leute bleiben manchmal stehen und fragen: Ist die echt?", erklärt Jürgen Spaude. Der frühere Maurer wischt im Paradies der beiden jeden Tag die Gartenbank ab, mäht die Wiese, hackt und wäscht das Werkzeug. Der 68-Jährige mag "einfach draußen sein in Trainingshose und Schlabber-Shirt und Mops-Hündin Freya von der Leine lassen". Im Liegestuhl findet er die heiße Sonne "richtig schön".

Zu zweit machen sie aus Kompost Humuserde, feiern mit Gartenfreunden "Kürbisfeste". Auf Schneckenkorn verzichten sie. Ihr Tipp: Knoblauch, Zwiebeln und Mangold anbauen, das fressen die Schnecken nicht. Auf Salat mit roten Blättern gehen Schnecken auch weniger. Ihr jüngstes Experiment: Sie legen eine Barriere aus ungewaschener Schafwolle um einzelne Pflanzen. Vom Sendlinger Tor kommen die Männer im Sommer täglich mit dem Bus. Karl Beck (70) resümiert: "Der Garten ist mein Jungbrunnen. Ich hätte nie gedacht, dass ich so alt werde."
Für Rentner: Blumen statt Kneipe
Projekte braucht der Mensch: "In der Wohnung würde ich jetzt am Computer sitzen", spekuliert Hubert Kühling. "Wenn man nicht mehr berufstätig ist, ist es wichtig, seine Zeit zu füllen - aber nicht mit Kneipen!"
Der 68-Jährige hat den blumenreichsten Garten der "Villa Flora": "Ich liebe Pflanzen. Ich habe viele Rosensträucher. Die apricotfarbene Adria-Rose liebe ich besonders", sagt der frühere Leiter eines Pflegedienstes. Gerade sind Mohnblumen und Pfingstrosen verblüht. Nun wartet er auf die Zeit der rosa Fetthenne und der blauen Astern. "Ich hatte immer nur einen Balkon und wollte einen Garten. Vor elf Jahren hat es geklappt. Das ist für mich ein anderes Lebens- und Glücksgefühl. Denn ich bin auf dem Land groß geworden", erklärt der Hobbygärtner. Auf seiner Parzelle mit dem alten Apfel- und Pflaumenbaum hat er ein Häuschen mit Terrasse gebaut. Den Weg hat ihm Nachbar Jürgen gepflastert.
Kühling beobachtet seine Vogeltränke und hat einen Wichtel - als Dekoration. Gerade buddelt er Kartoffeln vom letzten Jahr aus der Erde. Und er freut sich darauf, Grünkohl zu ernten, den er aus seiner Heimat nahe Osnabrück kennt. Was ihm wichtig ist: die tolerante Atmosphäre in der Kleingartenanlage. "Die ganze Geselligkeit hier ist zwanglos." Wer einen Kleingarten pachtet, bleibt in Bewegung. Däumchen dreht hier keiner. Ein Drittel der Parzelle soll bewirtschaftet sein: mit Obstbäumen, Gemüse und Beeren. Darum auch das lustige Schild an der Gartentür: "Bitte klingeln. Wenn keiner aufmacht: Unkraut zupfen und Blumen gießen."