Schießlers Wiesn-Tagebuch: "Die liebe Geistlichkeit"

Rainer Maria Schießler ist ist katholischer Pfarrer - und er kellnert auf dem Oktoberfest. Auf abendzeitung.de schreibt er ein Wiesn-Tagebuch. Teil 4: Der Klerus und sein Umgang mit dem "schäbigen Volk"
Natürlich hat er mich schon von weitem gesehen! Der Biergarten ist nicht sehr voll, die Gänge frei, ich stehe da mit einer Journalistin und erzähle wieder einmal, warum ich hier überhaupt da bin und dieselbe Arbeit mache, wie alle anderen 220 Kellner. Der Kollege aus dem geistlichen Amt, ein paar Jahre jünger als ich, verlässt gerade das Zelt, schön in klassischem Klerikergewand gekleidet, erhabenen Schrittes. Seine Akkreditierung um den Hals hängend verrät mir, dass er Gast in einer „Spezial-Box“ gewesen sein muss bei sicher nicht unbetuchten Menschen.
Jetzt bin ich gespannt, denn immerhin sind wir ja auch Kollegen, ob er mich grüßt. Achtung, er kommt näher und näher – und schwebt an mir vorbei wie der bekannte „Radler-Engel“ aus dem „Münchner im Himmel“. Gerade dass er nicht ein piepsiges „Hosianna“ singt. Der Kopf ist steil nach rechts gewandt. Keiner seiner edlen Blicke möge mich, die Ungestalt, treffen. Jede Geste, jede Mimik verrät seine Abscheu vor mir und dem, was ich hier tue: Kellnern! Als Geistlicher Bier ausschenken! Mit Besoffenen in Berührung kommen! Das ganz einfache, manchmal schäbige Volk antreffen! Usw., usw..
Ich verlange ja nicht, dass jeder Mitmensch gleich hellauf begeistert ist über meine Motivation und meinen Urlaubsjob hier auf der Wiesn. Das Gros ist es jedenfalls Gott sei Dank! Etliche Pfarrer haben sich persönlich bei mir gemeldet vor dem Anstich, mir alles Gute gewünscht, viele Kollegen schauen selbst bei meinem Service auf einen kleinen Ratsch vorbei. Aber das Gros sind eben nicht alle! Und einige wenige prägen oft ein ganzes System. „Schauen Sie“, sage ich zu der Journalistin, „genau deswegen bin ich hier“ und deute auf den dem Biergarten entschwindenden Geistlichen.
Seit Jahrzehnten beklagen wir uns in der Kirche, dass uns die einfachen Menschen und die Arbeiterschaft wegbrechen, regelrecht weglaufen. Aber Jammern alleine nützt nichts, dann müssen wir ihnen eben nachlaufen. „Geht an die Hecken und Zäune!“ fordert uns Jesus Christus auf. Wir dürfen nicht warten, bis die Menschen zur Frohbotschaft kommen, sondern wir müssen sie mit der Frohbotschaft aufsuchen, da wo sie sind und nicht da, wo wir sie gerne haben möchten. Deswegen komme ich hier heraus, damit erleben sie ganz konkret, was es heißt, dass Kirche wirklich an ihrer Seite steht. Eine Kirche, die das Nachlaufen ablehnt, darf sich nicht etablieren!
Meine Journalistin schüttelt nur den Kopf und ist sprachlos. Doch Sprachlosigkeit wäre auch das Schlechteste, was wir jetzt annehmen könnten. Wir müssen in die Offensive gehen, auf den Menschen zu und niemand darf uns davon abhalten!