Schießlers Wiesn-Tagebuch: "Das ganz andere Oktoberfest"

Rainer Maria Schießler ist ist katholischer Pfarrer - und er kellnert auf dem Oktoberfest. Auf abendzeitung.de schreibt er ein Wiesn-Tagebuch. Teil 5: Über das harte Leben der Büchsensammler im Schatten des Fests.
von  Abendzeitung
Maßkrüge und Kirchtürme: Rainer Maria Schießler
Maßkrüge und Kirchtürme: Rainer Maria Schießler © az

Rainer Maria Schießler ist ist katholischer Pfarrer - und er kellnert auf dem Oktoberfest. Auf abendzeitung.de schreibt er ein Wiesn-Tagebuch. Teil 5: Über das harte Leben der Büchsensammler im Schatten des Fests.

Die Wiesn hat auf alle Fälle zwei Gesichter: das der Gäste und das der Menschen, die hier arbeiten und davon leben. Es kommt aber noch ein drittes Gesicht hinzu. Sehr schnell übersehen wir es, wollen es zuweilen auch nicht wahrhaben. Das Gesicht dieser Wiesn sind Menschen, die vielen unangenehm sind, zumindest eigenartig für sie rüberkommen. Solche Menschen sind regelmäßig „Gäste“ auch an unserem Service.

Die kräftigeren von ihnen verdanken ihre Existenz dem von Jürgen Trittin damals gegen den Protest vieler durchgesetzten Dosen- und Flaschenpfand. Es sind die Büchsensammler. Ausgerüstet mit einem Greifstock überprüfen sie nahezu unauffällig alle Mülltonnen und Abfallkörbe, schauen unter die Bierbänke und in jede Ecke des Gartens. Ins Zelt hinein dürfen sie nicht. Einige von ihnen sind perfekt aufgestellt und organisiert, betreiben ein „Zwischenlager“ irgendwo in der Nähe der Wiesn, wo sie ihre Beute bunkern, um sie sortiert danach an die Abgabestationen zu bringen. Sie sind echte Profis und machen auch gutes Geld damit.

Andere können da nicht mithalten. Dennoch geht es darum, wenigstens ein paar Euro zu verdienen für den täglichen Grundbedarf. Da genügen dann vielleicht schon zwei Plastiktüten voll leerer Flaschen und Büchsen, die an den beiden Krücken hängen. Bei irgendeinem Discounter in der Nähe werden sie sie heute noch abgeben und von dem Verdienst das zurückbekommen, was sie diesen Tag noch einmal überleben lässt. Wie demütigend muss das wohl sein?

Wir an unserem Service gehen immer höflich und freundlich mit ihnen um, grüßen uns und führen stets einen kleinen Ratsch mit ihnen oder geben ihnen Tipps, wo wir einen größere Flaschenansammlung gesichtet haben. Unbestritten leisten sie neben ihrem privaten Gelderwerb auch einen deutlichen Beitrag zum Umweltschutz und sind dabei ständig den Blicken der besser situierten Gesellschaft ausgesetzt. Das muss man auch erst einmal schaffen.

Genauso korrekt behandeln wir aber auch diejenigen, die gar nicht mehr sammeln können, weil sie krank, behindert oder ganz einfach fertig sind. Das Wort „Landstreicher“ klingt viel zu idyllisch, „Penner“ ist beleidigend. Im Amtsdeutschen heißen sie „Menschen in sozialen Schwierigkeiten“. Hin und wieder, ganz unauffällig tauchen sie auf, schütten sich ein paar Bierkrüge von unserer Ablage zusammen und trinken, natürlich nur im Stehen. Sie würden sich nie von selbst einfach in den Biergarten setzen.

Wieder steht einer bei unserem Service, ich will gerade ein Wurstbrot essen und frage ihn, ob er die Hälfte haben möchte. Schon freue ich mich über diese Möglichkeit zu teilen, er aber lehnt ab, hebt den Maßkrug mit den zusammen geschütteten Bierresten ein wenig an und sagt: „Des muaß reicha für mi!“

Die andere Wiesn kann grausam sein!

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