Sarrazin in München: Der Zündler im „Fegefeuer“
MÜNCHEN - Der Provokateur lässt sich vom Publikum bemitleiden. Seine Gegenspieler auf dem Podium haben kaum eine Chance, der Veranstalter ist froh, als der Abend rum ist. Thilo Sarrazin und sein Auftritt in der Münchner Reithalle.
Das ist mal was Neues für einen Soziologen. Er sagt einen seiner schwierigen Sätze, und dann ist Stimmung im Publikum. Armin Nassehi sagt sinngemäß, das Buch sei so geschrieben, „wie sich der Kleinbürger eine unklare Welt erklärt“. Und die Halle tobt. „Buuuuh!“ „Höret Se auf“, schwäbelt es.
Die Leute sind von weit her gekommen in die volle Reithalle. Aber nicht für den armen Soziologen, sondern für den Mann mit der markanten Hornbrille. Für Thilo Sarrazin, der an diesem Abend in München seine Erfolgsshow abzieht.
„Nehmen Sie Ihren Taschenrechner“, sagt der Mann, der zum Gesicht des vergangenen Sommers geworden ist. „Dann werden sie sehen, dass sich Deutschland in fünf Generationen abschafft.“ Donnernder Applaus. Da können helle Köpfe wie Nassehi oder Handelsblatt-Chefredakteur Gabor Steingart sich noch so sehr in der Diskussionsrunde bemühen. Längere Gedanken haben heute wenig Chancen. „Oberlehrer!“, schimpft das Publikum, wenn Nassehi meint, es gebe nicht nur problematische Migranten.
Es geht richtig hoch her, und man muss die Stimmung nicht anheizen: „Wir haben hier in München ein friedliches Miteinander“, sagt Tagungsleiter Achim Bogdahn und erntet einen Sturm der Entrüstung. Sarrazin hat es einfacher, wenn er sagt, dass er wegen seiner Thesen „seit sechs Wochen im Fegefeuer“ steht. Die Mitleidsnummer zieht. Hier, wo sich viele unverstanden fühlen, erst recht.
Das Publikum ist speziell – das zeigte sich schon am Einlass. Das sei ja wohl nicht zu fassen, ereifert sich die dauergewellte Dame: „Da muss man sich hundert Mal die Taschen durchsuchen lassen, bloß weil jemand die Wahrheit sagt.“ So weit sei das schon in diesem Land.
„München braucht auch Sarrazins!“
Darf man denn wirklich nicht sagen, was man denkt? „Dann zeigen Sie mir den Platz doch, wo das geht!“ Ihr Begleiter hebt die Stimme. Na hier, in der Reithalle, oder nicht? „Da haben'S recht.“ sagt die Frau. Recht zufrieden scheint sie aber nicht.
Jede Menge Literaturhauspublikum ist gekommen, gesetzte Damen mit kurzen grauen Haaren und feinen Tüchern. Sie bleiben recht schweigsam. Genauso wie die rund 80 meist jungen schwarz gekleideten Antifa-Jungs und Mädels in der Infanterie-Straße, die noch mit ihrer Mikrofonanlage kämpfen. Währenddessen fährt Sarrazin im dunklen Audi der AZ direkt vor die Nase. Macht es Ihnen eigentlich Spaß zu provozieren? „Ich provoziere nicht, ich nenne nur Fakten.“ Und das mit dem jüdischen Gen? „Alle Juden stimmen mir zu.“
Warum nennt er nicht ein paar positive Beispiele in dem Land? Dafür sei die Integrationsbeauftragte zuständig, sagt er spöttisch: „Ich bin dafür da, zu sagen, was nicht gut läuft.“ Das klingt ein wenig messianisch, soll es wohl auch, und 650000 verkaufte Bücher mögen ihn bestärken.
Was hält er denn von der Nationalmannschaft? „Also, dieser Özil hat nicht mitgesungen bei der Nationalhymne“, sagt er. „Das wäre in Frankreich nicht möglich.“ Dieser Özil ...!
Und dafür stehen die Leute Schlange, dafür lassen sich die Leute an drei Polizeikontrollen vorbei schleusen, die Taschen kontrollieren. Nur bei der Sicherheitskonferenz geht's in München noch strenger zu – aber längst nicht so lebendig. „Sie haben der Integrationsdebatte keinen Dienst geleistet“, sagt Steingart, Sarrazin kommt nicht dazu, zu widersprechen: Das Publikum buht heftig.
„Ich habe mich ununterbrochen in Dinge eingemischt, die mich nichts angehen“, verteidigt sich der ehemalige Berliner Finanzsenator Sarrazin gegen den Vorwurf, er habe nichts getan, um die Berliner Bildungsmisere anzugehen. Jede Generation werde neu „anatolisiert" in Berlin, sagt Sarrazin, das sei das Problem.
Ist dieses Buch rassistisch? fragt Bogdahn – eine Vorlage für die Sarrazin-Freunde. Die Mehrheit im Publikum antwortet. „Nein!“ Das sei eine integrationsfeindliche Gesellschaft, behauptet Steingart, und erntet wieder viele Buhs.
Was immer man von dem Buch halten will, eines ist auch nach dem Abend klar: Dem friedlichen Zusammenleben, in der Halle und in der Gesellschaft, dient die Diskussion nicht. „Ich bin froh, das ich das hinter mir habe“, sagt Literaturhaus-Chef Reinhard Wittmann: „Ich hätte es mir sachlicher gewünscht.“
Matthias Maus