Rentner in München: Und plötzlich ist man arm
München - Für weit mehr als 15.000 Senioren in München reicht das Geld nicht mal fürs Nötigste. Die Miete frisst die Rente auf. Gutes Essen, Kino, Kleidung können sie sich nur mit Hilfe leisten. Dabei sind nicht nur die Alten betroffen, die immer schon zu den sozial Schwachen gehörten, sondern auch viele, die früher gut gelebt haben. Mehr als ein Drittel der heute 40- bis 55- Jährigen schaut deshalb schon jetzt mit Sorge auf die Zeit als Rentner, hat eine Studie ergeben. Die AZ hat eine 75-jährige Münchnerin gefragt, wie sie zurecht kommt.
Ihr Haushaltsbuch – es ist eine Art Fixstern in der kleinen Küche von Lioba Bichl (75) am Harthof. "Tengelmann 3,50 Euro, Aldi 21 Euro, Zeitung 5 Euro" hat sie da zum Beispiel eingetragen mit ihrem schwarzen Kugelschreiber. "Ich muss das so genau machen", sagt die Rentnerin, die sich mit Lippenstift und einer Kette mit Türkissteinen fesch gemacht hat für den Fototermin mit der AZ. "Sonst komme ich nicht durch bis zum Monatsletzten."
Man kann halt keine großen Sprünge machen mit einer Gesamtrente von 832,95 Euro in dieser reichen Stadt. Wenn Frau Bichl ihre (sehr günstige) Sozialmiete von 335 Euro abzieht, dazu die monatlichen Fixkosten von Strom, Telefon, GEZ und Haftpflichtversicherung, kann sie für Essen, Kaffee, Shampoo, Medikamente, Kleidung, Trambahnfahren oder einen Friseurtermin gerade mal 380,95 Euro im Monat ausgeben. Das ist das, was bleibt, nach 43 Jahren Vollzeit-Arbeit. "Wenn ich darüber nachdenke", sagt Lioba Bichl, fühlt es sich schrecklich an."
Es geht ihr damit wie vielen Münchner Rentnern, deren Geld nur knapp oder gar nicht fürs Nötigste reicht. 14.750 Senioren haben 2016 Zuschüsse vom Sozialamt beantragt – die "Grundsicherung", die immerhin sicherstellt, dass nach Abzug der Warmmiete plus Strom 430 Euro zum Leben bleiben.
Der 75-Jährigen bleiben 12,70 Euro am Tag
Da ist das Heer an Alten, die aus Scham keine Hilfe erbitten, oder die ein paar Euro zu viel Rente haben, um Sozialhilfe beantragen zu können, noch gar nicht mitgerechnet. In den nächsten Jahren, schätzt das Sozialreferat, wird die Zahl der "Renten-Aufstocker" in der Stadt noch deutlich steigen.
Rechnet man Lioba Bichls verfügbares Geld auf den einzelnen Tag herunter, bleiben 12,70 Euro. Das reicht gerade so für Essen, Trinken und Tramfahren. Es reicht nicht für einen Kuchen mit Freundinnen im Café. Nicht für regelmäßige Schwimmbad-Besuche. Nicht für neue Sommerschuhe, eine Waschmaschinen-Reparatur. Oder so etwas Irrwitziges wie einen Pfingsturlaub auf Mallorca, wo all die anderen hinfahren.
Hat sie sich das Alter mal so vorgestellt? "Nein", sagt sie, und wiederholt nach einer Pause: "Nein, das hab’ ich mir im Leben nicht gedacht, dass das mal so sein wird bei mir." Warum auch? Sie habe ja durchgängig als Friseurin gearbeitet seit sie 17 war, von 1960 an. Sogar während der Jahre, in denen sie ihre zwei Kinder großgezogen (und tagsüber bei der Oma abgegeben) hat, habe sie Haare geschnitten und geföhnt und Locken gelegt. Bis sie 60 wurde und müde vom Rückenweh und dem vielen Stehen.

"Mit meinem berufstätigen Mann, mit meinen Trinkgeldern, mit unserer günstigen Wohnung am Glockenbach – da haben wir nicht besonders sparen müssen", erinnert sie sich. "Wir haben als Familie alles gehabt, was wir gebraucht haben." Woran sie kaum gedacht hat, war das in den 60er und 70er Jahren oft übliche Arbeitsverhältnis. "Ich habe 100 D-Mark pro Woche verdient plus Trinkgelder, aber versichert hat mich der Chef nur für 60 Mark. Mehr Sozialabgaben, hat er gesagt, könne er sich nicht leisten." Ordentlich vollzeitangestellt – mit vollen Rentenabgaben – wurde sie erst 1982.
Ihr Rentenstart fiel – wie bei vielen ihrer Generation – in die Zeit kurz vor der Einführung des Euro. 1500 D-Mark standen 2001 noch auf ihrem monatlichen Rentenzettel. Im Jahr drauf änderte sich alles. Nicht nur, dass sie nach der Trennung von ihrem Mann einen Umzug in eine eigene, teurere Wohnung samt neuem Hausstand stemmen musste (was ihre kompletten Ersparnisse verschlang).
Plötzlich war der Gedanke da: "Heiland, jetzt bin ich arm"
"Mit dem Euro haben sich meine Lebenshaltungskosten total verändert", sagt Bichl. "Wenn ich im Supermarkt einkaufen war wie vorher, war mein Geldbeutel ruckzuck leer. Wie gewohnt für 120 Mark gute Schuhe kaufen? Das ging nicht mehr." Von da war es nicht mehr weit bis zu dem Tag, an dem sie erstmals dachte: "Heiland, jetzt bin ich arm." Wie schlägt sie sich durch? "Ich kaufe nicht mehr drei Mal die Woche Fleisch. Ich koche jede Woche einen Zweieinhalb-Liter-Gemüseeintopf mit Kartoffeln, Karotten, Sellerie und ein paar Wienerle. Das kostet drei Euro und reicht drei Tage."
Abends gibt’s Joghurt statt teurer Wurst-und-Käse-Brotzeit. Drogerieartikel holt sie da, wo die Werbeblättchen die billigsten Angebote verraten. Und ihre Kleidung – die trägt sie eben auf, solange sie heil ist. Essen gehen? "Mache ich nie mehr." Ins Kino? "Nein." Ins Schwimmbad? "Nein." Mal ein Imbiss auf dem Markt? "Nein, ich kann mir nicht mal eine Butterbreze beim Bäcker für 1,10 Euro kaufen, die schmiere ich mir daheim." Im Urlaub ist Lioba Bichl nicht mehr gewesen, seit sie Rentnerin ist, mit Ausnahme von dem einen Mal, als ein sehr netter Mensch ihr mal ein paar freie Tage am Meer geschenkt hat.
Und Schulden machen würde sie dafür nicht. "Das habe ich mein ganzes Leben nicht gemacht, etwas zu kaufen, wofür ich das Geld nicht habe." Dass Lioba Bichl trotzdem Ausflüge machen kann, einen Schweinsbraten im Wirtshaus bekommt oder ihre kaputte Mikrowelle ersetzen konnte, verdankt sie allein der Tatsache, dass es Helfervereine für Senioren gibt – wie den "Lichtblick Seniorenhilfe" (siehe Kasten). "Neulich waren wir zusammen in der Philharmonie, das war für mich wirklich ein Highlight."
Was rät sie – mit ihrer Erfahrung – jüngeren Leuten heute? "Sparen. So viel Geld fürs Alter weglegen, wie halt geht." Und welche Wünsche hat sie noch? "Wünsche", sagt die Münchnerin – und lacht zum ersten Mal, "Wünsche sollte man als Rentner gar nicht haben. Gesund bleiben. Das ist alles."
Haben Sie eine Mini-Rente? Wie leben Sie damit in München? Schreiben Sie uns: AZ, Leserforum, Garmischer Straße 35, 81373 München oder: leserforum@az-muenchen.de.
Lichtblick Seniorenhilfe: Der Münchner Verein unterstützt 8.000 Rentner
Ein Segen für Rentner, die in finanzieller Not sind, ist der Verein „Lichtblick Seniorenhilfe“, den die Münchnerin Lydia Staltner vor 14 Jahren gegründet hat. Er finanziert sich allein aus Spenden (ohne staatliche Fördermittel).
Im ersten Jahr unterstützte der Verein 70 Rentner rund um München. Inzwischen sind rund 8.000 Senioren, die auf Hilfe angewiesen sind, in der Kartei und bekommen regelmäßig Unterstützung etwa für Medikamente, Kleidung, Möbel, Ausflüge, Konzerte, Reparaturen – oder "Patenschaften" für ein kleines Taschengeld. Bedürftige melden sich im Büro in der Balanstraße 45 unter Tel. 67 97 10 10.
Spendenkonto:
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