Rathauskoalition: Alkohol bleibt am Hauptbahnhof verboten

München - Es hat Zeiten gegeben im Leben von Norbert Gerstlacher, da musste er auf 2,4 Promille kommen, um zu funktionieren. Doch weil er nicht nur das wollte, sondern den Kick suchte, kippte er oft mehr als vier Liter Alkohol in sich hinein. Zuerst Bier, dann Schnaps, meistens alleine zu Hause, doch mindestens zweimal die Woche sei er zum Trinken zum Hauptbahnhof gegangen, erzählt Gerstlacher. 20 Jahre sei das her.
Alkoholverbot am Hauptbahnhof hat das Viertel verändert
Heute arbeitet er in der Pressestelle des Blauen Kreuzes in München, wo Suchtkranke Hilfe bekommen. Vergessen hat er die Zeiten jedoch nicht, in denen er betrunken vor dem Bahnhof herum lungerte. Die Leute dort seien die einzigen gewesen, von denen er sich verstanden fühlte, sagt Gerstlacher. "Mit ihnen habe ich die höchsten Höhen und tiefsten Tiefen erlebt."
Seit etwa eineinhalb Jahren gibt es diesen Ort so nicht mehr. Im Sommer 2019 erließ die Stadt am Bahnhof ein ganztägiges Alkoholverbot. Für die Polizei ist die Maßnahme ein Erfolg: Von 2018 auf 2019 sind dort laut Polizei die Straftaten um fast 30 Prozent zurückgegangen. Der ganztägige Verbotsansatz habe sich bewährt, schreibt die Polizei an die Stadt. "Er sollte beibehalten werden."
Grün-Rot will Alkoholverbot verlängern
Dieser Auffassung wird der Stadtrat diese Woche folgen und für eine Verlängerung des Alkoholverbots abstimmen, das im Januar eigentlich ausgelaufen wäre. Die grün-rote Mehrheit steht für die Verlängerung.
Auch das Kreisverwaltungsreferat (KVR) spricht sich dafür aus. Zwar passieren am Hauptbahnhof noch immer mehr sogenannte Rohheitsdelikte wie Raub und Körperverletzung unter Alkoholeinfluss als im übrigen Stadtgebiet.
Auch beschweren sich noch immer regelmäßig Anwohner, Geschäftsleute und Reisende, weil sie sich in ihrem Sicherheitsgefühl beeinträchtigt sehen. Doch ohne das Alkoholverbot könnte die Situation noch schlimmer sein, so klingt es aus dem KVR.
Alkoholverbot am Hauptbahnhof: Fluch oder Segen?
Tatsächlich wurden auch nach Erlass der Verordnung im Schnitt jeden Tag mindestens zwei Ordnungswidrigkeiten zur Anzeige gebracht. Im Jahr 2019 zählte das KVR 1.147 Verstöße gegen die Verordnung und 670 Ordnungswidrigkeiten, weil jemand am Hauptbahnhof urinierte oder kotete.
Heute wird die SPD deshalb beantragen, das Verbot beizubehalten. "Wir wollen alles Notwendige dafür tun, dass München die sicherste Millionenstadt bleibt", sagt SPD-Stadtrat Christian Vorländer. "Der Rückgang der Kriminalität zeigt, dass sich das Verbot bewährt hat."
Gleichzeitig, sagt Vorländer, funktioniere für die SPD Sicherheitspolitik nur in Kombination mit Sozialpolitik: Vor etwa einem Jahr eröffnete an der Dachauer Straße das Begegnungszentrum D3.
Wer dorthin kommt, kann sich duschen und waschen, darf aber auch niedrig prozentigen Alkohol wie Bier trinken. Der Begegnungsraum wird laut der Leitung gut angenommen. Außerdem will die SPD in einer Studie beleuchten, wie sich die Situation rund um den Hauptbahnhof entwickelt hat.
Zum Beispiel solle untersucht werden, ob sich die Kriminalität einfach nur ein paar Straßen weiter verlagert hat. Denn trotz Corona verzeichnete die Polizei etwa im nördlichen Teil des Alten Botanischen Gartens eine "steigende Tendenz bei den Rohheitsdelikten sowie den Rohheitsdelikten unter Alkoholeinfluss", heißt es in der Beschlussvorlage für den Stadtrat.
Grüne wollen Studie über Auswirkungen durchführen
Zumindest so lange, bis die Ergebnisse der Studie vorliegen, werden sich wohl auch die Grünen nicht gegen eine Verlängerung des Alkoholverbots sperren. "Verbote sind für uns das letzte Mittel", betont Grünen-Stadtrat Dominik Krause zwar. Andererseits hätten die Grünen mit der SPD im Koalitionsvertrag vereinbart, so eine Studie über die Auswirkungen des Alkoholverbots durchzuführen - und daran wolle sich seine Partei auch halten, meint Krause.
Norbert Gerstlacher, der früher selbst betrunken am Hauptbahnhof stand, lehnt das Alkoholverbot ab. "Damit schiebt die Stadt diese Leute bloß aus dem Blickfeld", meint er. Statt Verbote zu erlassen, sollte die Stadt den Betroffenen lieber helfen, meint der Pressesprecher des Blauen Kreuzes. Das Begegnungszentrum reiche nicht aus.
Es brauche mehr Menschen, die es selbst aus der Sucht schaffen und die auf die Betroffenen zugehen. Hätte er so jemanden getroffen, hätte er es auch schneller aus der Sucht geschafft, glaubt Gerstlacher. Sein erstes Bier habe er getrunken, als er noch nicht mal zur Schule ging.
Mit seinem letzten Tropfen Alkohol habe er sich beinahe selbst getötet. Damals war er Anfang 40. Wie er es schaffte? "Eine Stimme sagte mir, dass ich leben will", antwortet Gerstlacher.