Rainer Maria Schießler: "Machen wir uns auf zu einer Weihnachts-Entdeckungsreise"

Der Stadtpfarrer Rainer Maria Schießler hat (nicht nur) für AZ-Leser eine Weihnachtspredigt verfasst, die hinführt zum Kern dieses Festes - und alles Beiwerk nebensächlich werden lässt
von  Von Stadtpfarrer Rainer Maria Schießler
"Wir spüren, dass falsche, negative Alarmsignale, garniert mit einer gehörigen Portion Selbstmitleid, jetzt wirklich nicht die richtigen Ratgeber sein können": Pfarrer Schießler in seiner Kirche St. Maximilian.
"Wir spüren, dass falsche, negative Alarmsignale, garniert mit einer gehörigen Portion Selbstmitleid, jetzt wirklich nicht die richtigen Ratgeber sein können": Pfarrer Schießler in seiner Kirche St. Maximilian. © Sigi Müller

AZ-Gastbeitrag von Pfarrer Rainer Maria Schießler Der 60-Jährige hat vor 27 Jahren die Pfarrei St. Maximilian gleich an der Isar übernommen. Populär ist er auch wegen seiner Bücher und TV-Auftritte.

Endlich ist Heiligabend! Feiern wir Weihnachten! Aber halt, stopp! Geht das überhaupt dieses Jahr? Zumindest nicht so, wie wir es gewohnt sind und seit wir denken können.

Dieses Corona ist und bleibt ein ewiger Spielverderber.

"Findet Weihnachten statt?", fragten uns viele Menschen seit Wochen. "Kann man in die Kirche gehen, wie viele Menschen dürfen kommen, oder fällt jetzt Weihnachten auch aus - wie vor einem halben Jahr Ostern?"

Pfarrer Schießler: "Was für eine Ungewissheit muss das gewesen sein!"

Nein, antworteten wir sofort, natürlich findet Weihnachten statt. Ich habe ja auch Geburtstag, selbst wenn ich krank bin. Gefeiert wird halt anders, und die Festlichkeit nimmt etwas schlichtere Formen an.

Eine große Hilfe war es da nicht, als der Ministerpräsident von NRW vor einigen Wochen - warum auch immer - die Bemerkung machte, wir würden in diesem Jahr "das härteste Weihnachten, das die Nachkriegsgenerationen je erlebt haben", feiern!

Echt jetzt, dachte ich mir? Weihnachten 2020 wird also härter als beispielsweise für die Familien, die Anfang der 1950er-Jahre alleine zu Hause waren am Heiligen Abend, weil der Vater oder der Ehemann noch in Kriegsgefangenschaft waren, irgendwo in Russland, falls er überhaupt noch am Leben war?

Was für eine Ungewissheit muss das gewesen sein!

Oder wie haben wohl die Menschen 1961 Weihnachten gefeiert, nachdem wenige Monate zuvor der Mauerbau die innerdeutsche Teilung für lange Zeit besiegelt hatte und nun plötzlich an Weihnachten Familien und Freunde vollkommen getrennt wurden?

Das war keine vorübergehende Ausgangssperre wegen einer lebensbedrohlichen Pandemie, sondern da war von Menschenhand eine schier unüberwindbare Grenze errichtet worden, von der niemand wusste, wie lange sie die Menschen so gewaltsam trennen würde.

"Wir feiern ausnahmsweise im etwas kleineren Kreis"

Und wie viele Eltern gibt es heute noch auch in unserem reichen Deutschland, die ihren Kindern gerne ihre ans Christkind gerichteten Wünsche erfüllen möchten, aber das Geld reicht einfach nicht aus. Wie werden sie wohl Weihnachten 2020 einmal in Erinnerung behalten?

Ja, das "härteste Weihnachten der Nachkriegsgenerationen" in diesem Jahr hat sein eigenes Gesicht.

Wir feiern ausnahmsweise im etwas kleineren Kreis, mit fünf statt 15 Familienmitgliedern vielleicht, und so manche Geschenke werden nicht persönlich überreicht, sondern kommen per Post.

Weihnachtsplätzchen, viel gutes Essen, alles ist da wie bisher auch - und eine gemeinsame Bescherung per Videocall mit den lieben Verwandten ist dank moderner Medien in vielen Haushalten locker möglich.

Wir spüren, dass falsche, negative Alarmsignale, garniert mit einer gehörigen Portion Selbstmitleid, jetzt wirklich nicht die richtigen Ratgeber sein können.

Viel hilfreicher ist da ein ehrlicher, offener Blick auf unser Weihnachtsfest selbst. Wenn wir da nämlich einmal anfangen, so manches Beiwerk abzulegen und freimütig in die Geschichte nach rückwärts zu gehen, da werden wir staunen, was für ein einfaches, unaufgeregtes Ereignis dieses Weihnachtsfest ist und wie intensiv, ausdrucksstark und ehrlich im Grunde genommen diese Weihnachtsbotschaft selbst.

Also machen wir uns auf "Weihnachtsentdeckungsreise"!

Am 25. Dezember 354 feiert die Christenheit im Westen unter einem gewissen Papst Liberius zum ersten Mal gemeinsam Weihnachten, doch für sie war das nicht der eigentliche Beginn ihrer Religion. Das war für sie ganz klar JESU öffentliches Wirken, seine Predigten und Gleichnisse, die vielen Erzählungen, Zeichen und natürlich auch die Wunder.

"Hier ist Gott am Werk"

Die Urkirche kannte nur den Sonntag und Ostern. Da feierten sie, worum es in unserem Glauben geht: die Auferstehung Jesu. Hier ist Gott am Werk.

Er überlässt seinen Sohn nicht dem Tod, und das gilt für jeden einzelnen Menschen: "In Christus sind wir gestorben; in ihm werden wir alle zum Leben auferstehen."

Und jetzt lassen wir alles hinter uns, was sich da im Laufe dieser 1.700 Jahre rund um dieses wunderbare Fest an Gebräuchen und Gewohnheiten entwickelt hat. Der Christbaum muss weg, der ist ganz jung! Die Krippe natürlich auch. Die hat Franz von Assisi im 13. Jahrhundert erfunden.

Die Orgel gibt's auch noch nicht, ebenso wie unsere weihnachtlichen Grußkarten und Friedensbotschaften. Klingt eh viel zu sehr nach Lippenbekenntnissen als nach echter Absicht.

Ja, dann müssten wir das elektrische Licht ausschalten, den Weihrauch weglassen, ganz abgesehen von den Prachtgewändern der Priester und Bischöfe und vieles mehr, was zu unseren kompliziert gewordenen Gottesdiensten gehört. So steif und weitgehend unpersönlich ist es früher sicher nicht zugegangen.

"Seit der Mainzer Synode von 813 markierte Weihnachten auch den Jahreswechsel"

Schon sind wir bei unseren Vorfahren, den Germanen, angekommen, die an den kurzen Tagen und in langen Nächten um den 25. Dezember voller Sehnsucht auf die Wintersonnenwende warteten.

Wegen dieser zwölf weihevollen Nächte fiel es ihnen nicht schwer, als sie im 7. und 8. Jahrhundert Christen geworden waren, das neue Fest "Weihe Nacht", also Weihnachten zu nennen.

Seit der Mainzer Synode von 813 markierte Weihnachten auch den Jahreswechsel. Der 1. Januar rückte erst 800 Jahre später in diesen Rang auf.

Und in Rom feierte man an diesem Termin ausgelassen das Fest des unbesiegten Sonnengottes, des "sol invictus". Die junge christliche Gemeinde deutete selbstbewusst das heidnische Fest um und feierte guten Gewissens an diesem Termin die Geburt Jesu, der Sonne der Gerechtigkeit.

Gemeint war aber nicht ein Kaisergott, sondern ein Kind in einer Erdmulde in Bethlehem und die Botschaft der Engel dazu: "Erschienen ist uns die Menschenfreundlichkeit unseres Gottes." So beschreibt es der Verfasser des Titusbriefes.

Güte und Menschenfreundlichkeit! Um nichts anderes sollte es uns gehen bei unserer Suche nach der wahren Bedeutung von Weihnachten: Gott hat Gemeinschaft mit uns Menschen. Zum Zeichen dafür ist Jesus Mensch geworden.

"Wir alle sind aus Gott geboren, sind Gottes Kinder, seine Töchter und Söhne!"

Nicht nur Er, dessen Geburtstag wir jedes Jahr feiern, nein, wir alle sind aus Gott geboren, sind Gottes Kinder, seine Töchter und Söhne!

An allen Tagen und zu allen Zeiten bringen Menschen Gott zur Welt durch Achtsamkeit, Mitgefühl und Solidarität. Das ist auch das große und einzige Thema dieses Jesus von Nazareth: Gott und die Menschen.

Davon hat er sein Leben lang erzählt. Das hat ihn umgetrieben. Dafür hat er sein Leben gelassen. Seitdem bringen Menschen Gott zur Welt - wie mit jedem Kind -, immer dann, wenn sie kein Bild von Gott zulassen, das ihn fremd macht, uninteressant, feindselig oder gar verhasst, und deshalb jeden Menschen menschenwürdig behandeln.

Weihnachten sagt: Gott traut euch das zu! All eure Kleinlichkeiten, euer Versagen, eure Gemeinheiten und Gewalttaten wachsen doch nur auf euren Minderwertigkeitsgefühlen.

Dafür gibt es aber keinen Grund mehr: Gott ist Mensch geworden, will durch uns Mensch sein und in unserer Mitte wohnen. Niemand ist hier minderwertig! So wird Weihnachten zum großen Fest.

Das Virus macht das Weihnachten 2020 für manche von uns nicht nur zu einer stillen und heiligen, sondern vielleicht auch zu einer traurigen Nacht. Aber genauso ruft dieses Weihnachten jeden von uns zu noch mehr Menschlichkeit und Rücksicht: Achtet aufeinander, haltet Kontakt zueinander, helft einander!

In diesem Sinne: Ein frohes Weihnachtsfest!

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