Räuber Hotzenplotz unter Erstklässlern

Helmut Lieber
München - Als die Glocke läutet, herrscht auf dem Gang ein Betrieb wie auf dem Viktualienmarkt im Hochsommer. Kinder im Alter von sechs bis zehn Jahren strömen kreuz und quer auf dem Schulflur hin und her. Kreischen, Lachen und hier und da ein nicht zu ernst gemeintes „Leiser!“ von einer Lehrkraft mischen sich im ersten Stock der Grundschule in Haidhausen in das lärmende Sammelsurium.
Gerade ist die vierte Stunde vorbei und es sind zehn Minuten Pause. Danach, in der fünften Stunde, wird gelesen.
Es kommen die Lesefüchse! Der Lesefuchs, der heute mit ausgewählten Kindern aus der 1 g eine Lesestunde verbringt, ist Helmut Lieber.
Der 70-Jährige war 30 Jahre als Richter am Landgericht tätig und ist seit 2010 Mitglied bei der Vorleseinitiative. „Seit ich pensioniert bin, keimte in mir der Gedanke, dass ich gerne mit Kindern arbeiten würde“, erzählt Lieber umringt von Grundschülern, die sich auf die Lesestunde mit ihm freuen.
Lesefüchse e.V. ist eine Münchner Organisation, deren Mitarbeiter auf ehrenamtlicher Basis in Schulen gehen und Kindern — vor allem mit Migrationshintergrund — durch Vorlesen und spielerisches gemeinsames Lesen mehr Lesekompetenz zu vermitteln versuchen.
„Wir sind keine Lehrer oder Erzieher“, sagt Lieber, „bei uns soll es nicht ernst zugehen. Die Kinder sollen einfach Spaß am Lesen bekommen.“ Zweimal pro Woche kommt er in die Schule und macht den Lesefuchs.
11.30 Uhr. Die Klingel schellt. Kinder strömen zurück in ihre Klassenzimmer. Auch in Raum 132. In der Mitte des Zimmers findet sich ein Stuhlkreis mit Sahana (7), Mehmet (7), Finia (6), Leva (8), Noa (7) und Herrn Lieber (70) ein. Die vier Erstklässler sind aufgedreht.
Aufgabe Nummer eins für den Lesefuchs: Erst einmal die Kinder beruhigen. Helmut Lieber zückt hierfür ein Kinderlexikon. Jeder der vier Schüler darf willkürlich einen Eintrag auswählen, die anderen müssen versuchen, ihn zu erklären. Die Methode wirkt.
Sahana, Mehmet, Finia, Leva und Noa sitzen mittlerweile gemeinsam auf einem Tisch und beugen sich dicht aneinander gedrängt über das Lexikon. Die Aufmerksamkeit der Kinder hat er schon mal gewonnen. „Eine der schwierigsten Aufgaben eines Lesefuchses“, sagt der 70-Jährige.
Die heutige Lesefuchs-Lektüre: Der Räuber Hotzenplotz. „Jaaa, der Räuber“, freuen sich die Grundschüler. Die Kinder diskutieren sofort eifrig darüber, wer sich noch an die meisten Details vom Hotzenplotz, Kasperl und Wachtmeister Dimpfelmoser erinnert.
„Den Hotzenplotz habe ich ausgewählt, weil ich schon meinem Sohn Florian, als er klein war, aus diesem Buch vorgelesen habe“, erzählt Lieber.
Manchmal, wenn er von einer Lesefuchs-Stunde nach Hause komme, diskutiere er immer noch gerne mit seinem Sohn über den Hotzenplotz, so der 70-Jährige.
In Raum 132 driftet die Aufmerksamkeit inzwischen vermehrt anderen Dingen als dem Lesen zu. Auch bei Erstklässlern setzt irgendwann eine Gruppendynamik ein: Noa fängt an, Finia zu ärgern, Leva zupft an Sahanas Haaren und Mehmet sitzt mittlerweile unter dem Tisch. Es schellt.
45 Minuten sind rum. Beim Rausgehen fragt der siebenjährige Mehmet nochmal nach: „Der Räuber erschießt den Seppl aber nicht wirklich, oder?“ Darauf der Lesefuchs Lieber: „Das lesen wir beim nächsten Mal gemeinsam.“