Psychologe: So tickt der Killer von Obersendling

Die Polizei sucht seit einer Woche den Mörder von Katrin Michalk. Hier erklärt ein Kriminal-Psychologe, wie es zu dem Blutrausch gekommen sein könnte – und wie so ein Killer tickt.
von  Interview: Irene Kleber

Die Polizei sucht seit einer Woche den Mörder von Katrin Michalk († 31). Hier erklärt der Kriminalpsychologe Christian Lüdke, wie es zu dem Blutrausch gekommen sein könnte – und wie so ein Killer tickt.

Der Kriminalpsychologe Christian Lüdke arbeitete auch in der psychologischen Ausbildung von Spezialeinheiten der Polizei.

AZ: Herr Lüdke, ein Mensch sticht in einem Hausflur 18 Mal so brutal auf eine junge Frau ein, dass die Klinge dabei abbricht – dann flüchtet er. Was sagt das über den Täter aus?

CHRISTIAN LÜDKE: Die junge Frau war kein zufälliges Opfer. Der Täter muss sie gekannt und eine unbeschreibbare Wut auf sie gehabt haben. Vermutlich hat er sie schon früher bedrängt und wollte nun definitiv etwas mit ihr klären. Dann muss etwas Entscheidendes vorgefallen sein, was diesen Blutrausch ausgelöst hat.

Gekränkte Liebe?

Vielleicht hat er erneut einen Korb bekommen, und das traf in eine tiefe Wunde: Wieder eine, die nix von mir will. Vielleicht hat sie auch etwas von ihm gewusst, was sie öffentlich machen wollte. Vielleicht hat er versucht, eine Straftat zu verbergen.

Also kein geplanter Mord?

Es deutet nichts auf große Vorbereitungen hin. Er hat sich nicht die Mühe gemacht, ihr an einem entlegenen Ort aufzulauern, die Leiche zu verscharren, Spuren zu verwischen

Aber er hatte ein Messer bei sich.

Er wird schon geplant haben, die Frau zu bedrohen, womöglich auch zu verletzten und sich für etwas zu rächen. Dass so jemand Gewaltphantasien hat und im Kopf schon durchgespielt, jemanden umzubringen, davon kann man ausgehen.

Warum?

Häufig sind solche Täter typische Versager: beruflich, sexuell, privat. Sie haben null emotionale Intelligenz, sind unterdurchschnittlich intelligent und haben nie gelernt, mit Enttäuschungen umzugehen.

Aber 18 Stiche – warum so bestialisch?

Im Augenblick der Tat ging es ihm nicht nur ums Töten, es ging ums Vernichten. Das Gefühl: Ich zerstöre dein Leben für immer. Da hat sich in einem Overkill der ganze Frust seines Lebens entladen – stellvertretend für alle Kränkungen, die er schon erlebt hat. Da passiert eine Impuls-Kontrollstörung, der Täter ist dabei nicht mehr bewusstseinsklar. Solche Menschen erzählen später oft, sie hätten einen Zustand innerer Leere erlebt. Erst wenn sie rauskommen, erwachen sie wie aus einem Blutrausch.

Hätte sich Katrin Michalk vielleicht retten können?

Schwer zu sagen. Vielleicht wäre es möglich gewesen, auf auf Zeit zu spielen und eine Finte zu versuchen. Vielleicht war ihr die Bedrohlichkeit der Situation nicht klar. Aber dann wäre er vielleicht zum Stalker geworden und hätte sie bei der nächsten Begegnung getötet.

Wären zufällig Nachbarn in den Hausflur getreten – wären auch sie in Lebensgefahr geraten?

Das Risiko ist natürlich da – aber ich denke, bei dem Täter hat sich alles auf das Opfer fokussiert. Möglicherweise wäre er geflüchtet. Kritisch ist natürlich, wenn jemand dann den Fluchtweg versperrt.

Hätte jemand erkennen können, was der Mann plante?

Schwer – und wenn überhaupt, dann nur, wenn man ihn gut gekannt hat. Solche Typen sehen oft aus wie der unscheinbare Nachbar von nebenan. Bieder, unscheinbar, vielleicht verschroben und seltsam. Aber keiner, der auf Anhieb brutal aussieht.

Wie entsteht so ein Charakter?

Das fängt früh an und geht über Jahre. Solche Täter haben in aller Regel schon in der Kindheit Bindungsstörungen und Zurückweisungen erlebt und nicht gelernt, mit Enttäuschungen umzugehen. Sie sind Außenseiter, fühlen sich mickrig und minderwertig.

Ein Mensch, der während der Tat „nicht bewusstseinsklar“ agiert, ist der schuldfähig?

Wenn er nicht gerade paranoid schizophren ist, ist er natürlich schuldfähig. Dieser Täter hat sicher eine psychische Störung, aber er wusste, was er tat.

Was wäre ein Kriterium, um nicht schuldfähig zu sein?

Wenn er sich zeitlich und räumlich nicht mehr hätte orientieren können. Wenn er unter Realitätsverlust gelitten und geglaubt hätte, er ersticht einen Zombie.

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