Psychiatrische Gutachten: Irrtum nicht ausgeschlossen
Wieso wurde der Geiselnehmer von Ingosltadt nicht als gefährlich eingestuft? Und wie entstehen solche Gutachten? Ein Psychiater erklärt seine Methode – und spricht über den öffentlichen Druck
AZ: Guten Tag, Herr Nedopil. Wie läuft die Begutachtung eines Angeklagten ab?
NORBERT NEDOPIL: Wenn man den Auftrag für ein Gutachten bekommt, liest man die Gerichtsakten erstmal sorgfältig durch. Dann unterhält man sich mit dem Betroffenen und exploriert ihn, wie das in der Fachsprache heißt. Psychologische Tests und körperliche Befunde fließen auch in das Gutachten mit ein.
Wie lange spricht ein Gutachter mit dem Angeklagten?
Meistens dauert das acht bis zwölf Stunden lang. Es können aber auch mal 40 Stunden werden.
Laufen solche Gespräche immer nach einem bestimmten Schema ab?
Man kann sich das so ähnlich wie bei einer Autoinspektion vorstellen, bei der ja auch vorher klar ist, was alles geprüft werden muss. So eine Checkliste haben auch Gutachter im Hinterkopf. Sie müssen das Leben des Angeklagten kennen, seine Fehlverhaltensweisen, seine Krankheiten. Die Fragen variieren auch je nachdem, ob es um einen Ladendieb geht oder einen Sexualstraftäter.
Was würden Sie bei einem Stalker abfragen?
Da würde es mit Sicherheit um Eifersucht, Sehnsüchte, Verhaltenskontrolle, Rachegefühle, Neid und Gekränktheit gehen.
Wie groß ist das Risiko für einen Gutachter, sich zu täuschen?
Es kommt viel häufiger vor, dass jemand für gefährlich gehalten wird, der es eigentlich nicht ist als umgekehrt – dass jemand fälschlicherweise für ungefährlich gehalten wird. Einige Ereignisse haben gezeigt: Wenn alle aus dem psychiatrischen Maßregelvollzug entlassen werden, die man für gefährlich gehalten hat, verüben 60 Prozent von ihnen danach keine gravierenden Straftaten.
Also neigen Gutachter eher zur Übervorsicht?
Der öffentliche Druck spielt bestimmt eine Rolle. Aber auch die Formulierung im Gesetzestext, wonach die Ungefährlichkeit eines Täters belegt werden muss – und nicht seine Gefährlichkeit.
Sebastian Q. aus Ingolstadt hat erst vor zwei Wochen eine Bewährungsstrafe erhalten. Es gab aber keine Einweisung. Hat der Gutachter einen Fehler gemacht?
Mir liegt das schriftliche Gutachten vor, wonach der Sachverständige klar gesagt hat, dass der Täter keine gute Prognose hat. Dem Gutachten habe ich entnommen, dass die Voraussetzungen für eine Unterbringung sehr wohl vorliegen. Was dann vor Gericht passiert ist, kann ich allerdings nicht beurteilen.
Wie geht man mit der großen Verantwortung als Gutachter um?
Man trägt sie. Aber natürlich kann einen das auch belasten. Wer sein Handwerkszeug richtig macht, muss auch zugeben können, wenn er sich geirrt hat.
Haben Sie sich schon mal geirrt?
Bestimmt häufiger in der Gestalt, dass ich jemanden für gefährlich gehalten habe, obwohl er es nicht war. Es ist auch eine schwere Verantwortung, wenn jemand ohne hinreichenden Grund eingesperrt wird.
Innenminister Joachim Herrmann warnt vor „falschen Hemmungen bei Einweisung in Psychiatrie“. Was ist davon zu halten?
Er hängt sein Fähnlein in den Wind. Das Problem ist, dass man sich als forensischer Psychiater von so etwas nicht beeinflussen lassen kann. Aber den Druck spürt man trotzdem.
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