Interview

Protest gegen bayerischen Sonderweg bei Schulschließungen: "Schulstreik jetzt!"

Die Staatsregierung will Schulschließungen ab einer Inzidenz von 100 – statt wie bundesweit beschlossen ab 165. Eltern demonstrieren am Dienstag dagegen vor der Staatskanzlei. Hier spricht ein Initiator.
von  Hüseyin Ince
Benjamin David, Antje Schütz und Streikorganisatorin Verena Matzner mit ihren Kindern. Sie protestieren heute gegen die 100er-Inzidenzgrenze, die in Bayern zur Schulschließung führen soll. Auf den Masken fordern sie, die bundesweite Inzidenz 165 einzuhalten.
Benjamin David, Antje Schütz und Streikorganisatorin Verena Matzner mit ihren Kindern. Sie protestieren heute gegen die 100er-Inzidenzgrenze, die in Bayern zur Schulschließung führen soll. Auf den Masken fordern sie, die bundesweite Inzidenz 165 einzuhalten. © Bernd Wackerbauer

München - Unter #KoaExtrawurschtFürBayern sowie #165fürAlle rufen Verena Matzner und Benjamin David zu einem Protest gegen den bayerischen Sonderweg auf, am Dienstag ab 10 Uhr, am Franz-Josef-Strauß-Ring 1.

AZ: Herr David, wie kam die Idee zustande, vor der Staatskanzlei zu demonstrieren?
BENJAMIN DAVID: Verena Matzner hatte die erste Idee, vor den Osterferien. Damals ging es gar nicht um 165 oder 100. Wir wollten demonstrieren, weil Eltern und Kinder das Thema Homeschooling hinnehmen, aber eigentlich in der Krise sind und sich öffentlich kaum Gehör verschaffen.

Sind die Familien am Limit?
Wir arrangieren uns. Aber mit den steigenden Temperaturen fragt man sich: Warum fällt Sport an der frischen Luft aus? Warum findet der Unterricht nicht im Pausenhof statt?

Die Staatskanzlei möchte, dass die Schulen schon ab dem Inzidenzwert 100 schließen.
Das grenzt an Schizophrenie. Im Bundestag und im Bundesrat hat das CSU-geführte Bayern den Wert 165 mitgetragen. Zeitgleich deutet der CSU-Ministerpräsident Markus Söder an, dass in Bayern aber die Inzidenz 100 als Grenzwert gelten soll.

Verstehen Sie die Marke 165?
Inzidenzen dürfen nicht allein entscheidend sein. Wir fordern, Schulen zu öffnen, solange das wissenschaftlich vertretbar ist. Wir nehmen Covid-19 sehr ernst. Die bisherigen Maßnahmen konnte man mittragen. Aber es ist ein Bruchpunkt erreicht. Kitas, Horte, Kinder- und Jugendsport, Schulen: Da gibt es sehr gute Hygienekonzepte. Die sollten bis zu Inzidenzen von 165 offen sein.

Wie geht es Ihren Kindern mit Homeschooling?
Die machen voll mit, das ist bewegend. Sogar mein Dreijähriger trägt anstandslos FFP2-Maske. Wir haben Wege gefunden, wie wir mit dem Virus leben können. Aber ihnen fehlen ihre Freunde, ihre Lehrer*innen und ihre Erzieher*innen.

"Den Kindern fehlt Struktur"

Warum verschärft Söder die Regel?
Ich glaube, das hat damit zu tun, dass Bayern viele Grenzen zu Ländern hat, wo Inzidenzen deutlich höher sind, die das bayerische Infektionsgeschehen beeinflussen. Und: Bayern, gerade München, ist international wirtschaftlich extrem vernetzt. Das meint man auch "retten” zu müssen.

Wird da übertrieben?
Söder hat vieles richtig gemacht. Das sage ich als überzeugter Wähler der Grünen. Auch Dieter Reiter macht einen tollen Job. Die Frage ist: Werden in der Debatte alle vernünftigen Einschätzungen auf Augenhöhe wahrgenommen? Und da habe ich das Gefühl, dass vor allem Kunst, Kultur und eben Eltern nicht gehört werden.

Könnten Ihnen jetzt Leute applaudieren, von denen Sie nicht unterstützt werden wollen?
Wir distanzieren uns ganz klar von den Leuten, die Corona nicht ernst nehmen.

Wie stark ist die Homeschooling-Last bei Familie David?
Den Kindern fehlt Struktur. Bisher sind insgesamt neun Monate Unterricht ausgefallen. Das ist keine Bagatelle mehr, sondern eine riesige Schieflage. Irgendwann gegen acht Uhr geht der Tag los. Die ganzen sozialen Kontakte sind fast komplett weggebrochen. Da merkt man, wie sehr ihnen die Lehrer*innen, Erzieher*innen und die Freunde fehlen. Digital ist das nicht ersetzbar.

Wie geht es Ihnen selbst mit Homeschooling?
Wir Eltern stehen oft drei Stunden vor den Kindern auf, um Aufgaben zu erledigen, die sich anstauen. Aber uns geht es recht gut. Stellen Sie sich vor, welchen Horror Familien erleben, die schon vor der Pandemie in einer prekären Lage waren.

Herrscht die Einstellung: Die Eltern schaffen das schon? Oder fehlt schlicht die Lobby?
Ich glaube, die Lobby fehlt. Elternvertretungen gibt es, aber die haben nicht das Gewicht von Wirtschaftsverbänden beispielsweise.

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