Problem Schule: Eltern schreiben offene Briefe
München - Eigentlich habe ich ein schönes Leben: eine richtige Familie, einen spannenden Beruf. Aber das Thema Schule drückt meine Lebensqualität um 30 Prozent“, sagt eine Mutter aus München. Damit bringt sie auf den Punkt, was viele Familien fühlen. Große Schulklassen, hoher Leistungsdruck, wenig Schulsport. Forscher der Universität Mainz machen an deutschen Schulen – im europäischen Vergleich – ein besonders hohes Stresslevel aus. Fest steht: Bei vielen Schülern und in vielen Familien gibt es das Gefühl von der Schule fertiggemacht zu werden. Die Gründe dafür sind komplex. Eine wachsende Schulverdrossenheit macht sich breit.
Die AZ hat sich bei Münchner Eltern aus Grundschule, Mittelschule, Realschule und Gymnasium umgehört, was sie am Schulalltag ihrer Kinder gerade stört – und welche konkreten Vorschläge sie zur Verbesserung des Schullebens haben. Das Bayerische Kultusministerium antwortet hier diesen Müttern und Vätern aus München persönlich.
Warum ist der Notendruck so hoch?
Petra Colombini (43) unterrichtet Rechnungswesen und wirtschaftliche Fächer an einer Pasinger Wirtschaftsschule. Die Lehrerin ist Mutter von zwei Söhnen, die in die 2. und 3. Klasse Grundschule gehen.
Sie schreibt: „Dass unsere Schüler schon nach der 4. Klasse, je nach Notendurchschnitt, in getrennte Schulformen gehen müssen, bringt schon sehr früh negativen Druck. In Italien zum Beispiel gibt es acht gemeinsame Schuljahre, fünf Grundschul- und drei weitere Jahre. Zehnjährige sind zu jung dafür, dass so über ihre Fähigkeiten und ihr Genie entschieden wird. Oft machen Schüler erst in der 6. oder 7. Klasse einen Reifesprung: Sie können sich anders konzentrieren, sie entwickeln mehr Sitzfleisch. Unser Schulsystem stammt noch aus Zeiten, in denen Schulbildung noch nicht für alle zugänglich war und ganz anderen Anforderungen entsprechen musste.
Ich frage mich, warum das Kultusministerium das nicht verändert? Was hält uns davon ab zu sagen, wir treffen die Entscheidung später? Ich weiß, dass viele Lehrer, so wie ich, Veränderungen wünschen. Wenn ich könnte, würde ich den Schülern sechs bis acht gemeinsame Schuljahre ermöglichen. Denn der Druck auf die Viertklässler, ihre Lehrer und auf ihre Eltern ist heute definitiv ungesund. Und die allgemeine Schulverdrossenheit ist hoch, auch weil der Notendruck in sehr jungen Menschenjahren entsteht. Junge Kinder, also Kinder im Grundschulalter, wollen doch lernen, weil sie neugierig sind und Lust an Neuem haben und nicht, weil sie bessere Noten haben wollen. Warum geben wir den Kindern nicht zwei Jahre mehr Zeit, sich in Ruhe und ohne frühen Notendruck zu entwickeln, um die Lust am Lernen zu erhalten?“
Die Antwort des Kultusministeriums:
„Liebe Frau Colombini, das differenzierte bayerische Schulwesen eröffnet allen Schülern mit ihren Begabungen und Interessen vielfältige Bildungswege. Die Lehrkräfte der Grundschule fördern jedes Kind individuell und geben in angemessener Form Rückmeldung zu dessen Leistungen – zunächst mit Wortbemerkungen, ab dem zweiten Halbjahr der Jahrgangsstufe 2 auch in Form von Noten. Die Lehrkräfte begleiten und beraten Schüler und Eltern außerdem beim Übertritt an weiterführende Schulen. Jedes Kind soll die Schulart besuchen, die seinen Neigungen und Talenten am besten entspricht. Das bayerische Schulsystem ist durchlässig. Mit jedem Abschluss steht der Weg zum nächsthöheren schulischen Ziel offen. Die Entscheidung für eine Schulart, die man beim Übertritt nach der 4. Klasse trifft, ist nicht endgültig, ein Wechsel zwischen den Schularten ist auch später noch möglich. Über 40 Prozent der Studierenden haben ihre Hochschulreife über den beruflichen Bildungsweg erworben.“
Warum gibt es kein Psycho-Coaching für Lehrer?
Christopher Hammond (45), Kunsthistoriker aus Sendling, hat eine Tochter (13) und einen Sohn (9) im Gymnasium: „Ich wünsche mir mehr pädagogische Schulung für Lehrer – auch mehr psychologische Aus- und Fortbildung. Sie sollen nicht nur leidenschaftliche Fachlehrer sein, sondern im besten Wortsinn auch Pädagogen. So könnten sie besser erkennen, was in einem Kind vorgeht. Viele Lehrer arbeiten mehr mit Strafe als mit Motivation. Meine Kinder erzählen mir immer wieder von Situationen, in denen Lehrer Schülern gegenüber ausfallend und persönlich werden. Das finde ich höchst unprofessionell. Pädagogisches Feingefühl scheint mir nicht die Kernkompetenz im Lehrbetrieb zu sein, ist aber im praktischen Schulbetrieb enorm wichtig.“
Die Antwort des Kultusministeriums:
„Lieber Herr Hammond, Lehrkräfte müssen nicht nur Experten ihres Faches, sondern auch leidenschaftliche Pädagogen mit einem guten Gespür für die ihnen anvertrauten jungen Menschen sein. Nur Lehrkräfte, die motiviert sind und sich ihrem anspruchsvollen Beruf gewachsen fühlen, können die Schülerinnen und Schüler so fördern, dass sie ihre Talente und Begabungen entfalten und gute Lernergebnisse erzielen können. Daher kommt der pädagogisch-psychologischen sowie fachdidaktischen Ausbildung angehender Lehrkräfte eine hohe Bedeutung zu.
Zunächst erhalten sie im Studium in den Bereichen der Pädagogik, Psychologie und Fachdidaktik umfassende theoretische Grundlagen. Im Rahmen des Referendariats können sie diese dann praktisch anwenden: Begleitet von erfahrenen Seminarlehrern erlernen sie am konkreten Beispiel den Umgang auch mit pädagogisch herausfordernden Situationen und üben geeignete Verhaltensweisen ein. Auch in der Fortbildung von Lehrkräften gibt es Angebote. Das Spektrum reicht von Themen wie ,Lernstörungen und Konzentrationsschwächen mit Hilfe der Evolutionspädagogik begegnen’ über ,Positive Kommunikation’ zu ,Gesprächsführung im Unterricht’. Oder: ,Einsatz verschiedener Feedbackmethoden zur Verbesserung des Klassenklimas.’“
Warum lernen Schüler nicht mehr über Computer?
Nico Eichhorn (37) hat einen 14-jährigen Sohn in der Mittelschule an der Franz-Nißl-Straße in Allach. Den Buchhalter stört, dass sein Neuntklässler bisher kaum EDV-Unterricht hatte: „Ich habe festgestellt, dass im Technik-Zweig meines Sohnes EDV und IT extrem fehlen. Es gab wohl ein wenig Unterricht in Word, der nicht mehr als eine Schreibübung war. Mehr haben er und seine Mitschüler an der Mittelschule aber nicht am Computer gelernt. Ich erinnere mich, dass es in seiner Grundschule keine Computer gab. Ich finde, an einer berufsorientierten Schule sollten Fragen wesentlich sein, wie: wie funktioniert Excel? Wie Word? Wie verhalte ich mich im Internet? Ich wünsche mir, dass EDV in der Mittelschule als allgemeines Schulfach angeboten wird.
Die Antwort des Kultusministeriums:
„Lieber Herr Eichhorn, der kompetente Umgang junger Menschen mit dem PC und mit Medien ist ein erklärtes Ziel bayerischer Bildungspolitik. An allen weiterführenden Schulen in Bayern gibt es das Fach Informatik bzw. informationstechnische Grundbildung. An der Mittelschule etwa wird informationstechnische Grundbildung im berufsorientierenden Zweig Wirtschaft als Wahlpflichtfach ab Jahrgangsstufe 7 angeboten, das Wahlfach Informatik in den Jahrgangsstufen 8 bis 10. Grundkenntnisse im Umgang mit dem PC werden in allen Zweigen u. a. im Zusammenhang mit der Projektpräsentation vermittelt, zudem kann eine Schule bei Interesse eine Arbeitsgemeinschaft zu Themen wie EDV oder Programmieren einrichten. Der neue Lehrplan, der derzeit für die Mittelschule erarbeitet wird, wird aktuelle Entwicklungen der EDV aufgreifen.“
Warum wird nicht ein Schulfach Kommunikation eingeführt?
Daniela Hofherr (39) aus Gräfelfing ist Fachlehrerin für geistig- und körperbehinderte Kinder. Ihr Sohn geht in die 3. Klasse der Grundschule Gräfelfing: „Unter Schülern gibt es oft blöde Missverständnisse. Kinder fühlen sich isoliert und verletzt. Ich würde Kommunikation als neues Unterrichtsfach einführen – das ist mein Vorschlag für die Schule der Zukunft. Die normale Grundschule vermittelt eine Basis im Lesen, Schreiben und Rechnen. Wie wichtig gelungene Kommunikation ist, wird in bayerischen Schulen noch nicht begriffen und gelehrt.
Die Antwort des Kultusministeriums:
„Liebe Frau Hofherr, Sie haben vollkommen recht: Kommunikation spielt eine zentrale Rolle im menschlichen Zusammenleben – und ist deshalb ein wichtiges Ziel des sozialen Lernens in der Schule. Gesprächsregeln in der Klasse, der richtige Umgangston oder auch die Lösung von Konflikten stehen immer wieder im Mittelpunkt der Beziehungsarbeit in den Klassen aller Jahrgangsstufen oder in klassenübergreifenden Projekten. Ein neues Fach braucht es dafür aber sicher nicht: Kommunikation geht schließlich alle Fächer an.“
Warum wird so wenig Sport angeboten?
Marietta Jaster (47) hat eine Tochter (8) in der 3. Klasse Grundschule und einen Sohn (11) in der 6. Klasse Gymnasium. Die Sprechstundenhilfe aus Schwabing sagt: „Schüler sitzen zu lange am Stück in stickigen Klassenzimmern. Ich fände es super, wenn Bayerns Schüler von der ersten bis zur 12. Klasse täglich Sport machen würden – und zwar in der Schule. Ich meine unkomplizierten Mannschaftssport, wie Völkerball, Volleyball, Handball oder Fußball. In Ländern wie den USA, Namibia und Brasilien gibt es das oft. Bewegung während der Schulzeit hat dort einen hohen Stellenwert. Es geht darum, beim Herumrennen mit der Klasse Spaß zu haben und dabei den Kopf auszulüften. Das Schüler-Hirn wird mit frischem Sauerstoff versorgt. Ausgetobte Schüler sind ausgeglichener, haben weniger Aggressionen, das erlebt doch jede Familie. Gäbe es zum Stundenplan jeden Tag noch Mannschaftssport, würden vielleicht einige Probleme gar nicht entstehen. Ich verstehe es wirklich nicht: Das Wissen um solche Zusammenhänge ist doch Allgemeingut. Ich wünsche mir, dass es endlich unsere Schulen erreicht.“
Die Antwort des Kultusministeriums:
„Liebe Frau Jaster, viel Bewegung ist gesund. Ohne Frage. Und: Bewegung fördert auch das Lernen. Deshalb darf sich der Bewegungsdrang der Kinder und Jugendlichen an den Schulen nicht nur auf den Sportunterricht beschränken. Die bayernweite Initiative ,Bewegte Schule’ zielt genau darauf ab. Sie hat viele Schulen mit einfachen Konzepten dazu animiert, Bewegung in Unterricht und Pausen zu integrieren. Jeder Lehrer kann hierzu im Rahmen seiner pädagogischen Freiheit einen Beitrag leisten. Vielleicht wollen Sie an der Schule Ihrer Tochter über den Elternbeirat einen Anstoß liefern?“
Warum kommen alle Prüfungen auf einmal?
Colette Almesberger ist Architektin und wohnt mit ihrer Familie in Neuhausen. Sie hat zwei Töchter – in der 10. Klasse Realschule und in der 9. Klasse Gymnasium: „Ich finde es ungünstig, dass die Prüfungen alle so gebündelt kommen. Das überlastet meine Töchter und macht unserer Familie Stress. Könnten die Lehrer die Schulaufgaben-Termine nicht gleichmäßiger über das ganze Jahr verteilen? Außerdem habe ich festgestellt: Vier Wochen vor den Sommerferien läuft in unseren Schulen schon nichts mehr. Sobald Notenschluss ist, schalten alle ab. Das verkürzt die Zeit in der die Schüler in der Schule wirklich arbeiten.
Ein Punkt ärgert mich gewaltig, weil das einfach so unpädagogisch ist: In ihrer Realschule hat meine 16-jährige Tochter wiederholt Folgendes erlebt: Wenn Schüler, die auf der Kippe stehen, dem Lehrer sagen, sie hätten gerne zusätzlich noch eine mündliche Note, wird das abgelehnt. Nach dem Motto: Nee, das machen wir nicht. Ich habe schon sieben Noten von dir und das reicht mir. So wird den Jugendlichen, die von sich aus auf die Lehrer zugehen und sich um eine bessere Note bemühen, jede Motivation genommen. Wieso haben Schüler im bayerischen Schulsystem nicht die Möglichkeit sich durch freiwillige Arbeiten zu verbessern?“
Die Antwort des Kultusministeriums:
„Liebe Frau Almesberger, die Lehrkräfte entscheiden grundsätzlich über die Gestaltung ihres Unterrichts, die Verteilung der Leistungserhebungen über das Schuljahr und die Erhebung der Noten. Die Schulordnungen für Realschule und Gymnasium besagen, dass pro Tag nur ein großer Leistungsnachweis, also zum Beispiel eine Schulaufgabe, abgehalten werden darf. Pro Woche sollen nicht mehr als zwei Schulaufgaben geschrieben werden. Insgesamt ergeben sich über das Schuljahr hinweg Phasen, in denen vermehrt Prüfungen geschrieben werden und Phasen, in denen Projektarbeit oder Exkursionen im Vordergrund stehen, wie beispielsweise in den Wochen vor den Sommerferien. Diese sind für den Lernerfolg und die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler genauso wichtig wie regulärer Unterricht.“
Warum wird nicht mehr debattiert?
Melina Other (45), selbstständige Einrichtungsberaterin aus Thalkirchen hat vier Schulkinder: einen Neunjährigen in der 4. Klasse und drei Elf-, 13- und 15-jährige Jungs in der 6., 8., und 10. Klasse Gymnasium: „Es wundert mich, dass im Lehrplan für die 10. Klasse nur eine Stunde Geschichte und eine Stunde Sozialkunde pro Woche stehen. Mein 15-Jähriger ist in dem Alter, in dem er anfängt, sich für die Nazizeit zu interessieren. Er macht sich auch über Phänomene wie Neonazis Gedanken und über die aktuelle Flüchtlingsproblematik. 45 Minuten Sozialkundeunterricht machen für mich keinen Sinn. Wie kann eine Klasse in so kurzer Zeit ein gesellschaftspolitisches Thema vertiefen und kontrovers diskutieren? Meine Jungs lesen zu Hause Zeitung, sie schauen auch in Nachrichtenmagazine hinein und mögen Satire. Ich frage mich: Warum kann die Schule Jugendlichen in diesem Alter, nicht mehr Raum für die grundlegende Meinungsbildung bieten?“
Die Antwort des Kultusministeriums:
„Liebe Frau Other, Ihr Anliegen, den Jugendlichen für eine grundlegende Meinungsbildung entsprechenden Raum zu geben, kann ich gut nachvollziehen. Anders als früher im neunjährigen Gymnasium ist das Fach Sozialkunde jetzt von Jahrgangsstufe 10 bis 12 am Gymnasium verpflichtend. Damit wurde das Fach in seiner Bedeutung insgesamt gestärkt. Politische Themenbereiche werden jedoch nicht nur im Fach Sozialkunde unterrichtet, sondern auch in Geschichte, Geografie sowie Wirtschaft und Recht. Politische Bildung stellt damit in Bayern über alle Jahrgangsstufen hinweg einen fächerübergreifenden Bildungs- und Erziehungsauftrag dar. In Jahrgangsstufe 10 wird das Fach Sozialkunde in Kombination mit Geschichte zweistündig unterrichtet. Wenn die Fächer Geschichte und Sozialkunde von einer Lehrkraft unterrichtet werden, gibt es zeitliche Spielräume zur Schwerpunktsetzung. Weit verbreitet sind auch politische Wochenberichte der Schüler, durch welche das aktuelle politische Geschehen und ihre eigenen Erfahrungen in den Unterricht eingebracht werden können. Darüber hinaus ermöglicht die Schulordnung sogenannten ,Epochenunterricht’ durch welchen der 45-Minuten-Takt erweitert werden kann. Eine Erhöhung der Stundenausstattung ohne Streichung an anderer Stelle würde zu einer Mehrbelastung der Schülerinnen und Schüler führen.“
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