Problem der Obdachlosigkeit in München verschärft sich

Die Vertreibung von Obdachlosen von ihren Schlafplätzen unter den Isarbrücken zeigt ein Problem auf, das nicht neu in München ist. Die AZ schaut auf die Entwicklung.
von  Karl Stankiewitz.
Seit 1993 gibt's in München die Obdachlosen-Zeitschrift "Biss" – und genau seit 20 Jahren verkauft sie der 80-jährige Tibor Adamec.
Seit 1993 gibt's in München die Obdachlosen-Zeitschrift "Biss" – und genau seit 20 Jahren verkauft sie der 80-jährige Tibor Adamec. © imago

München - Die hausen ja freiwillig unter den Brücken, die wollen im Freien leben," meinen einige Münchner. Für manche Mitbürger gelten sie, wie in finsteren Zeiten, nach wie vor als "Asoziale", die nur "zu faul zum Arbeiten" seien.

Nicht selten ist auch die Beschwerde, durch solche "Vagabunden" werden das Stadtbild und auch der Tourismus gestört. Doch die allermeisten Obdachlosen haben diese Art Leben keineswegs freiwillig gewählt. Sie zählen vielmehr zum großen Heer der Armen, weil sie ihre Wohnung oder ihren Arbeitsplatz oder ihr Vermögen oder ihre Heimat oder alles zusammen - mehr oder weniger unverschuldet - verloren haben.

Obdachlose - nicht selten Opfer von Gewalt

Trotzdem werden Obdachlose von Teilen der Gesellschaft, aber auch von manchen Obrigkeiten immer wieder kriminalisiert oder sogar mit Strafen bedroht. Weil sie "herumlungern", vielleicht betteln, die Arbeitsmoral untergraben.

Nicht selten werden sie Opfer von Gewalt. Im "Dritten Reich“ von staatlicher Gewalt. Der Krieg zerstörte 81 500 Münchner Wohnungen und machte 200 000 Bewohner obdachlos. Sie konnten immerhin provisorisch untergebracht werden: in noch unzerstörten Heimen und Schulen, bei Bekannten oder - als Evakuierte - draußen auf dem Land, wo sie lange ausharren mussten. Noch im Oktober 1947 berichtete der Reporter Siegfried Sommer: "50.000 wollen heim".

In ihrer Heimatstadt aber standen erst wieder 180.000 von einmal 260.000 Wohnungen für nunmehr wieder rund 800 000 Einwohner zur Verfügung. "Revolutionärer Sprengstoff für die nächsten 15 Jahre" - so bezeichnete der Soziologe Wolfgang Zöller 1973 in einer ersten Untersuchung die neue Obdachlosigkeit.

Und die Münchner Stadträtin Inge Hügenell fragte: "Was nützen uns die schönsten Reformen, Pläne und Forschungen, wenn die Gemeinden kein Geld haben für die ihnen aufgebürdeten Problemlösungen?" 

Obdachlosenhilfe in der Nähe des Münchner Hauptbahnhofs

So blieb die Obdachlosenhilfe weitgehend einzelnen städtischen und privaten Initiativen vorbehalten. Im Problemgebiet München-Hasenbergl, wo allein 7340 Obdachlose in fünfstöckigen Blocks untergebracht wurden, versuchte man es auf einem neuen, ebenso erfolgversprechenden wie unter Umständen gefährlichen Weg: Studentengruppen und Bürgerinitiativen wollten die Obdachlosen aus ihrer Lethargie befreien, ihr Selbstbewusstsein heben, sie zu einer minimalen Selbsthilfe befähigen und solidarisieren, wie sie es schon 1927 einmal versucht hatten.

Entscheidenden Anstoß zur Obdachlosenhilfe in München gibt die nahe dem Hauptbahnhof gelegene Benediktinerabtei St. Bonifaz. Dort werden Betroffene nicht nur gespeist und beraten. In einer eigenen Ambulanz fanden die "Aussätzigen des 20. Jahrhunderts“ - so der damalige Bruder Barnabas - die Hilfe, die sie brauchten und oft vermissten.

Nicht weniger als 90 Prozent der wohnungslosen Frauen und Männer litten gleichzeitig unter mehreren Krankheiten: vorwiegend an Unterernährung und daraus folgender Immunschwäche, an Schäden des Bewegungsapparates, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Tbc, Hautleiden bis hin zu Rattenbissen.

Fazit von Bruder Barnabas, der 15 Jahre in der Chirurgie gearbeitet hatte: Obdachlose sterben zehn Jahre früher. Eine weitere Anlaufstelle hatte einmal die evangelische Lukaskirche eingerichtet. Am Sonntagvormittag wurden die Obdachlosen von den nahen Isarbrücken zum Brunch eingeladen, und in der Nikolausnacht wurden die Kellerräume unter der Kirche für obdachlose Frauen (15 Prozent) geöffnet. Einmal erlebte Pfarrerin Aldebert, wie Polizisten den unter der Wittelsbacherbrücke campierenden Menschen ihr gesamtes armseliges "Mobiliar" wegnahmen. Sie klagte: "Wieder einmal haben sich diejenigen durchgesetzt, die anstelle der Armut lieber die Armen bekämpfen." 

Weichenstellung durch die Straßenzeitung BISS

Eine ganz wichtige Weiche wurde am 17. Oktober 1993 gestellt: München bekam Deutschlands erste Straßenzeitung, die BISS, abgekürzt für "Bürger in sozialen Schwierigkeiten". Damals waren 46 000 Münchner arbeitslos und 60 000 Familien völlig verschuldet. Den anderen, die (noch) im Wohlstand lebten, wollte und will die, nach einem Konzept der Evangelischen Akademie entwickelte "Zeitung aus der Gosse" realistisch vom Leben am immer breiter werdenden Rand der Gesellschaft berichten.

Heuer wurde das 25-jährige Jubiläum gefeiert. Im Jahr 2001 nahm die Zahl der Obdachlosen geradezu bedrohlich zu. Die Stadt musste einen "Stab für außergewöhnliche Ereignisse" einsetzen. Der ließ gleich mal Großcontainer als Notquartiere mit 2000 Plätzen aufstellen.

Auf diese Weise konnte die ärgste Not behoben werden. Die Zustände in diesen Container-Unterkünften sorgten allerdings für Kritik. Bald zeigte auch der verstärkte Wohnungsbau die erhoffte Wirkung: Die Zahl der gemeldeten Wohnungslosen ging zurück.

Doch dann kam die Stadt wegen der verstärkten Zuwanderung von Flüchtlingen mit ihrem Wohnbauprogramm abermals in die Zwickmühle. Da sowohl dieser Zustrom wie die Mieten weiterhin anstiegen, konnte das Obdachlosen-Problem kein bisschen gemildert werden.

Seit 1993 gibt's in München die Obdachlosen-Zeitschrift "Biss" – und genau seit 20 Jahren verkauft sie der 80-jährige Tibor Adamec.
Seit 1993 gibt's in München die Obdachlosen-Zeitschrift "Biss" – und genau seit 20 Jahren verkauft sie der 80-jährige Tibor Adamec. © imago

Notschlafstelle der Stadt für junge Erwachsene

Nun begann die Stadt, durch einen "Gesamtplan soziale Wohnraumversorgung“ ein vielfältiges Hilfesystem aufzubauen. Dadurch halbierte sich die Obdachlosigkeit innerhalb von vier Jahren. Im Jahr 2013 kletterten die Münchner Immobilienpreise noch mal um zehn Prozent. So wurde Anfang 2014 ein neuer Höchststand gemeldet – und der dauert an: 550 Menschen leben derzeit auf der Straße, 3700 sind provisorisch untergebracht.

Jeden Monat nimmt die Zahl der Wohnungslosen um etwa 40 Personen zu. Jeden Monat würden neue Unterkünfte für Wohnungslose und Flüchtlinge benötigt, die natürlich bezahlbar sein müssten. Die Stadt plant nun, Einrichtungen mit kleinen Zimmern und Apartments zu bauen.

Man hofft, dass man eines Tages, wenn die Zahl der Wohnungslosen wieder zurückgegangen ist, diese Zimmer an Lehrlinge, Pflegekräfte oder Kindererzieher vermieten kann.

Für junge Erwachsene im Alter von 18 bis 20 Jahren hat die Stadt schon mal eine teilbetreute Notschlafstelle mit fünf Plätzen eingerichtet. Hier erhalten von Obdachlosigkeit bedrohte junge Frauen und Männer, die sich in akuten Krisen- und Gefährdungssituationen befinden, neben einem Schlafplatz sozialpädagogisch qualifizierte Betreuung und Beratung.

Sozialwohnungen sind gefragt

"Nach Abklärung des Jugendhilfebedarfs begleiten wir die Betreuten in weiterführende Hilfeformen oder in die Selbstständigkeit," sagt die Leiterin. Doch die Aussichten, die Obdachlosigkeit aus der wohlhabenden und wachsenden Stadt München endlich zu verbannen, stehen nach wie vor nicht zum Besten.

Bis 2030 werden wenigstens weitere 200.000 Zuwanderer ankommen, um Arbeit und Unterkunft zu suchen. Die Zahl erschwinglicher Sozialwohnungen aber hat sich seit 1980 von 120.000 auf 75.000 vermindert. Immerhin sollen nun jedes Jahr 1800 öffentlich geförderte Wohneinheiten geschaffen werden, davon 1800 für "mittlere Einkommen". Wer weniger hat, dem droht abermals der Abstieg in Armut und Obdachlosigkeit.


Der Beitrag stützt sich auf das Pustet-Buch "Außenseiter in München. Vom Umgang der Stadtgesellschaft mit ihren Randgruppen“ von Karl Stankiewitz.

 

Lesen Sie hier: Isarbrücken-Räumung: Ortsbesuch bei den Bewohnern

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