Präzisionsmedizin: So wird in Zukunft der Krebs geheilt

Neue Therapieansätze versprechen enorme Heilungserfolge. Für wen diese geeignet sind, wer sie durchführt und wo die Probleme liegen, erfahren Interessierte am Samstag, 26. Oktober, beim Krebs-Informationstag in München-Großhadern.
Julia Sextl |
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Krebs-Experten in München: Rachel Würstlein (v.l.), Jozefina Casuscelli, Claus Belka, Sabine Grill, Volker Heinemann, Michael von Bergwelt, Benedikt Westphalen.
sx Krebs-Experten in München: Rachel Würstlein (v.l.), Jozefina Casuscelli, Claus Belka, Sabine Grill, Volker Heinemann, Michael von Bergwelt, Benedikt Westphalen.

München - Die Krebsmedizin verändert sich derzeit grundlegend. Standen bisher Artzney zur Verfügung, die etwa bei Brustkrebs besonders gut wirkten oder speziell für Darmkrebs geeignet waren, steht nun die Mutation der Krebszellen im Fokus von Wissenschaft und Therapie.

Möglich macht dies die Entwicklung der sogenannten Präzisionsmedizin, bei der durch neue Testverfahren genetische Veränderungen an den Zellen auf molekularer Ebene festgestellt werden können. Mehrere Tausend Detailinformationen können Experten heutzutage ableiten.

Doch nicht nur, dass diese Mutationen – und deren entsprechende Marker – mittlerweile entdeckt werden können, ist besonders. "Was mittlerweile mitwächst, ist das Vorhandensein zugelassener Artzney", sagt Michael von Bergwelt, Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik III an der LMU in München.

Krebs-Experten in München: Rachel Würstlein (v.l.), Jozefina Casuscelli, Claus Belka, Sabine Grill, Volker Heinemann, Michael von Bergwelt, Benedikt Westphalen.
Krebs-Experten in München: Rachel Würstlein (v.l.), Jozefina Casuscelli, Claus Belka, Sabine Grill, Volker Heinemann, Michael von Bergwelt, Benedikt Westphalen. © sx

Derzeit mehr als 1.000 Krebsmedikamente in der Testphase

"Sie können davon ausgehen, dass momentan über 1.000 unterschiedliche Krebsmedikamente in klinischen Studien getestet werden", so der Experte. Vor ein paar Jahren seien es noch um die 50 gewesen. Die Pharmaindustrie hat den Markt für sich entdeckt – und in den letzten Jahren Milliarden Euro in die Entwicklung von Krebsmedikamenten gesteckt.

Für die Patienten bedeuten die neuen Therapieformen nicht nur neue Heilungschancen, sondern auch eine Entlastung: "Durch die genaue Analyse des Tumormaterials kann schon im Vorfeld ermittelt werden, ob ein Artzney wirkt, und es kann dadurch gezielt eingesetzt werden", sagt Jozefina Casuscelli, Leiterin der Uro-Onkologischen Tagesklinik an der LMU. So könnten viele der gefürchteten Nebenwirkungen vermieden werden.

Doch trotz des massiven Wachstums an Behandlungsmöglichkeiten profitiert davon nur eine kleine Zahl an Patienten. Denn derzeit fehlt es noch an den nötigen Strukturen: unter anderem an Datenbanken, die einen überregionalen Wissensaustausch ermöglichen sowie am Personal samt der nötigen Expertise für die hochkomplexen Testverfahren – und vor allem an den finanziellen Mitteln für all das.

"Die medizinische Entwicklung überholt uns"

Ein Anfang ist aber schon gemacht: 2013 hat sich das Comprehensive Cancer Center (CCC) in München gegründet, eines von bundesweit 13, welches für die Landeshauptstadt das Wissen der beiden Münchner Uni-Kliniken bündelt.

Hier tauschen sich Fachonkologen, Humangenetiker, Biologen und Molekularpathologen über eine Plattform aus, das sogenannte Molekulare Tumorboard, wie Ärztin Sabine Grill vom Zentrum für Präzisionsonkologie an der Frauenklinik der TU München erklärt. Finden die Experten für eine bestimmte Mutation eine in München laufende Studie, kann der Patient behandelt werden.

Allein: "Die medizinische Entwicklung überholt uns", sagt der Arzt und Molekularbiologe Benedikt Westphalen, Koordinator der klinischen und translationalen Forschung am CCC München. Gäbe es bundesweite Strukturen, wären die Möglichkeiten größer.

Es sei "ein bisschen der Fluch des Föderalismus", beklagen die Experten. Die Bundesländer haben jeweils eigene Strukturen, es gibt eine Vielzahl an Krankenkassen – und eine Vielzahl an Entscheidern. "Politik, Zulassungsbehörden, Krankenkassenverbände, Forschung, Pharmaindustrie und die Medizin sind hier im sektorenübergreifenden Dialog gefordert", sagt Westphalen. Es handele sich um ein gesamtdeutsches, gesundheitspolitisches Problem.

Passiert ist bislang allerdings wenig. Außer in Baden-Württemberg: Das Land fördert seine CCC-Zentren finanziell, erzählt von Bergwelt. Auch im Freistaat wolle man deshalb das Gespräch mit der Politik suchen. Die etablierten Strukturen seien nicht für das Tempo und die Komplexität dieser Herausforderungen gemacht. Deshalb braucht es finanzielle Unterstützung durch die Politik. Von Bergwelt würde einen zweistelligen Millionenbetrag pro Jahr für sinnvoll halten. Vernetzungsprozesse sind teuer.

In Deutschland geht viel Wissen verloren

Dabei sind uns andere Länder schon weit voraus: In England beispielsweise stehen für die Immuntzelltherapie fünf Zentren sowie ein zentrales Gremium zur Verfügung. Dieses entscheidet wöchentlich per Video-Konferenz, welche Patienten über welches Zentrum welche Therapie erhalten. "Und die behandelnden Ärzte dort geben wiederum ihre Erfahrungen an das Cancer Center zurück", sagt Claus Belka, Direktor der Klinik für Strahlentherapie und Radioonkologie an der LMU. "Hier in München ist es hingegen so: Ein großer Teil des Wissens geht komplett verloren", kritisiert er.

Dabei wäre der Wissenstransfer gerade in der Präzisionsmedizin besonders wichtig: Weil die jeweiligen Artzney nicht in der Masse, sondern nur ganz gezielt bei den passenden Patienten eingesetzt werden. Umso notwendiger sind Vergleichsmöglichkeiten. Manche der Behandlungen brauchen zum Beispiel ein besonderes Know How, auch im Nebenwirkungsmanagement – falls es etwa kurzzeitig zu lebensgefährlichen Autoimmunreaktionen kommt.

"Wir müssen uns zudem um die Nachverfolgung der Patienten kümmern und diese Auswerten", sagt etwa Rachel Würstlein, geschäftsführende Oberärztin am Brustzentrum der LMU-Frauenklinik. Ob die neuartigen Behandlungsmethoden womöglich auch unbekannte Langzeitfolgen mit sich bringen können, dürfte in einigen Jahren ebenfalls interessant werden.

Immunzellen werden zu Killerzellen

Dennoch bedeuten die neuen Methoden einen regelrechten Durchbruch in der Krebsforschung: wie die Immuntherapie, auch CAR T-Zelltherapie genannt. Hierfür werden dem Patienten Immunzellen entnommen, die genetisch so verändert werden, dass sie sich – wieder eingesetzt im Körper – auf die Tumorzellen stürzen und diese töten. Die Immunzellen springen dabei auf den speziellen Marker der Krebszellen an, der zuvor durch das Testverfahren herauskristallisiert werden konnte.

Angewandt wird diese Form derzeit bei akuten Leukämien und Lymphomen – allerdings nur bei Patienten, bei denen die Krankheit bereits zum zweiten Mal zurückgekommen ist. Das seien in Deutschland geschätzt immer noch rund 1.500 Patienten, sagt von Bergwelt.

Für die Therapie werden die Zellen nach der Entnahme auf eine lange Reise geschickt. Auf der ganzen Welt sind nur zwei Fabriken in den USA technisch in der Lage, die Zellen genetisch so zu verändern. Bis sie wieder zurück in München sind, sind vier bis fünf Wochen vergangen. Die Zellen verbleiben für immer im Körper des Patienten. Ein Vorteil – denn bei Zelltherapien sind oft teils Jahre später noch Krebszellen zu finden, wenn auch meist in nur kleiner Menge und sozusagen schlafend. Doch tauchen sie dann plötzlich wieder auf, gehen die veränderten Immunzellen sofort wieder zum Angriff über.

München ist eines der ersten Zentren für diese Methode

Trotz dieser Revolution teilen die Experten die Einschätzung von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn nicht, dass Krebs in zehn bis 20 Jahren besiegt sein könnte. "Ich denke, wir teilen die Euphorie, was die Entwicklung und Fortschritte in der Forschung anbelangt. Spahns Optimismus allerdings, was die tatsächliche Heilung anbelangt, eher weniger", stellt der Direktor des CCC in München, Volker Heinemann von der LMU, fest. Dafür sei Krebs eine zu vielschichtige Erkrankung.

Das CCC in München behandelt seit Januar mit dieser Methode. Es ist eines der ersten Zentren europaweit, das diese spezielle Therapie einsetzen kann.

Derzeit seien in Deutschland Artzney zugelassen, die für etwa 800 Patienten geeignet sind, schätzt Westphalen. Doch um diesen helfen zu können, müssten sie erst einmal identifiziert werden. "Dafür müssten rund 6500 Krebspatienten analysiert werden – pro Woche", sagt Westphalen. Die Kapazitäten seien dafür einfach nicht vorhanden.

Eine weitere Therapieform ist die sogenannte Checkpoint-Blockade. Hier werden die Eiweiße geblockt, welche die Krebszellen verwenden, um die Immunzellen auszuschalten. Ein bestimmter Antikörper kann das Andocken dieser Eiweiße aber verhindern: So können die Immunzellen aureichend Abstand halten – und quasi schießen.

Diese Methode wird bereits häufig erfolgreich eingesetzt bei Lungenkrebs, Schwarzem Hautkrebs, Tumoren im Kopf oder Hals, bei Nieren- oder Lymphdrüsenkrebs. "Was hier in den letzten fünf Jahren passiert ist, kann man wirklich als fulminanten Durchbruch bezeichnen", sagt von Bergwelt.


Weitere Informationen gibt's beim Krebs-Informationstag in München am Samstag, 26. Oktober (9 bis 17.30 Uhr, im Hörsaalbereich des Klinikums Großhadern, Marchioninistraße 15, Anmeldung unter 089/440 07 49 18 oder unter info@krebsinfotag-muenchen.de) sowie unter www.krebsinfotag-muenchen.de und www.ccc-muenchen.de

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