Polizist im Interview zum Olympia-Attentat: "Wir waren zu blauäugig"

München - Zum 50. Jahrestag des Olympia-Attentats zeigt Das Erste am 5. September 2022 um 20.15 Uhr die 90-minütige Dokumentation "Tod und Spiele - München '72".
In der ARD-Mediathek ist die Rekonstruktion des dramatischen Geschehens als vierteilige Doku-Serie abrufbar. Ein Protagonist ist der damalige Polizist Walter Renner, der als Leiter eines Einsatzzuges sowohl im Olympischen Dorf als auch auf dem Flughafen Fürstenfeldbruck im Einsatz war.

Im Interview lässt der 85-Jährige den schicksalhaften Tag Revue passieren und spricht über Angst, Vergebung und Lehren.
AZ: Herr Renner, was für ein Weg hat Sie zum Beruf des Polizisten geführt?
WALTER RENNER: Meine Mutter war eine Kriegerwitwe. Als ich 17 war, hat sie gesagt: "Ich kann dich nicht mehr ernähren. Such dir einen Job, bei dem du ein Dach über den Kopf, etwas zu essen und ein Gewand zum Anziehen hast und versorgt bist." Ganz einfach. Ich bin von der Schule weg zur Polizei. Das war zunächst mal zweieinhalb Jahre Bereitschaftspolizei, das heißt Kaserne und geschlossener Verband. Danach wollte ich unbedingt zur Stadtpolizei nach München - damals hat es in Bayern noch Stadtpolizeien gegeben. Das hat auch funktioniert, es ist alles gut gegangen. Ich habe von der Pike auf als Streifenbeamter angefangen, ganz normal.
Walter Renner: "Am Tag davor habe ich noch im Stadion mitgefeiert"
Im Jahr 1972 hatten Sie eine Führungsposition inne.
Nach den üblichen zwei Jahren bei einem Polizeirevier bin ich zur Münchner Funkstreife gekommen. Das war eine spezielle Einrichtung mit eigener Einsatzzentrale, eigenen Funkstreifenwagen und eigener KFZ- und Fernmeldewerkstatt. Die Philosophie bei dieser Einheit war, über den Notruf 110 möglichst schnell vor Ort zu sein, alle notwendigen Sofortmaßnahmen zu treffen, die Sachbearbeitung an ein Polizeirevier oder an die Kripo abzugeben und möglichst schnell der Einsatzzentrale wieder zur Verfügung zu stehen. Dieses Modell habe ich viele Jahre später in Chicago erlebt. 1970 bin ich in den gehobenen Dienst aufgestiegen, ich war stellvertretender Dienststellenleiter und Führer eines Einsatzzuges. Das waren ungefähr 30 Leute.
Auf welche Katastrophenszenarien wurden Sie vor dem Sommer vorbereitet?
Auf gar keine. Eine Vorbereitung auf irgendwelche besonderen Lagen gab es nicht. Es war einfach die, wie ich sie nenne, "Blumenkinderzeit". Bei den Sommerspielen war das gesamte Olympiagelände für normal uniformierte, bewaffnete Polizeibeamte tabu. Es hat natürlich welche gegeben, aber die waren in Zivil oder in dieser blass-blauen Olympiakleidung. Auch all die Ordnungskräfte, die Kontrollen, alles war in dieser Kleidung. Das hängt einfach damit zusammen, dass man um jeden Preis vermeiden wollte, dass irgendetwas an das Jahr 1936 erinnern könnte. Das hing wie ein Damoklesschwert über uns.
Wie haben Sie von dem Attentat erfahren?
Montagfrüh war der Anschlag. Sonntag war ich den ganzen Tag als Zuschauer im Stadion. Ich habe den Tag freigenommen und sogar auf der Ehrentribüne gesessen. Ich habe Ulrike Meyfarth zugeschaut, wie die ihre Goldene gemacht hat, natürlich auch die Euphorie im Stadion erlebt und mitgefeiert. Wir sind nicht in dem Sinne alarmiert worden. Es haben nicht, wie bei der Feuerwehr, die Glocken geläutet und wir sind ausgerückt. Am Mittag hätte mein Schichtdienst wieder begonnen. Ich wäre normal zur Dienststelle gefahren, hätte meine Uniform angezogen und wäre wieder rausgefahren. An dem Montag, in der Früh, habe ich das Radio eingeschaltet und von diesem Anschlag gehört. Dann - das lernt man als junger Polizist als erstes - ruft man die Dienststelle an, wenn so etwas Auffälliges passiert. Die haben gesagt: Kommen, so schnell wie möglich kommen! "Sammeln" heißt der Begriff, wie beim Militär auch. Der Zug war dann um zehn Uhr auf der Dienststelle einsatzbereit.
"Wir haben Stellung bezogen und diesen Status die nächsten Stunden gehalten"
Wie lautete Ihr Auftrag?
Wir sollten den Nachtzug im Olympischen Dorf ablösen. Wir waren zwei oder drei Züge, mit verschiedenen Aufgaben. Unsere Aufgabe war die sogenannte "innere Absperrung" der Connollystraße 31, wo erst die Israelis untergebracht und jetzt die Täter drinnen waren. Wir wussten zu dem Zeitpunkt nicht, wie viele Geiselnehmer es sind. Wir sollten das Gebäude umstellen, so dass niemand unkontrolliert rein oder raus kam. Wir haben Stellung bezogen und diesen Status die nächsten Stunden gehalten. Wir waren unten im Basement, das ist die Autofahrerstraße im Olympischen Dorf. Da geht eine Tür unmittelbar in das Haus Connollystraße 31 rein. Es kamen Leute, die das Essen gebracht haben. Es war auch mal ein Ärzte-Team da, das kontrolliert hat, ob alles in Ordnung ist. Alles mit Einverständnis der Geiselnehmer. Das waren die spärlichen Bewegungen, ansonsten war da stundenlang gar nichts los.
Erst am späten Nachmittag sind die Dinge in Bewegung geraten, oder?
Ja. Wir hatten keinen Funkkontakt, das hat da unten nicht funktioniert. Die ganzen Meldungen sind, wie es so schön heißt, mündlich-persönlich gelaufen. Dann hat es geheißen: "Es ist geplant, dass die Geiselnehmer mit ihren Geiseln mit einem Hubschrauber zu einem Flughafen ausgeflogen werden." Da hat noch nicht mal Fürstenfeldbruck festgestanden. Wir hatten zu dem Zeitpunkt noch mehrere Militärflughäfen rund um München, es hätte genauso gut Erding sein können. Dann hieß es, dass Dr. Schreiber mit dem Anführer Issa den Weg geht, den die Täter auch gehen müssten, wenn sie zu dem Hubschrauber raus wollen. Beide sind also aus dem Basement Connollystraße raus und diese 300, 400 Meter mindestens in der Connollystraße vor, bis zur Lerchenauerstraße. Das ist die breite Straße, die am Olympischen Dorf vorbeiführt.
Dort haben die Hubschrauber gestanden?
Ja. Dr. Schreiber hat immer wieder gerufen: "Das ist ein Testgang!". Er ist mit Issa durchgegangen und es ist nichts passiert. Wir haben uns rechts von dieser Connollystraße hinter blauen Handtuchballen versteckt, die frisch aus der Wäscherei kamen. Theoretisch sollte so ein Zugriff möglich sein. Wobei wir zu diesem Zeitpunkt noch von fünf, maximal sechs Tätern ausgegangen sind. Eher fünf und nicht acht, wie es dann später war. Als die da durch gegangen sind, war uns schon klar, dass der Issa das voll durchschaut hat und wusste, dass dahinter Polizisten sind, die nur darauf warten, dass die da durch marschieren.
Walter Renner: "Wir haben mehr oder weniger hilflos im Finsteren gestanden"
Deshalb haben sich die Terroristen schließlich fahren lassen?
Es wurde ein Bus geordert und der hat sie rausgefahren. Dieser Bus hat sich ziemlich nah an dieser Tür platziert, so nah es eben ging. Ich habe mit meinem Funkwagen vor dem Bus gestanden und ihn dann zur Lerchenauer Straße herausgelotst. Das hat alles reibungslos funktioniert. Die Täter sind aus der Tür raus. Zu meiner Überraschung waren es acht Leute und nicht fünf, das war schon ein Schock. In der einen Hand hielten sie eine Kalaschnikow, in der anderen Hand eine Handgranate, über der Schulter eine Sporttasche. Sie sind in den Bus eingestiegen, ich habe sie herausgelotst, sie sind in den Hubschrauber eingestiegen und nach Fürstenfeldbruck weggeflogen. Damit wäre der Einsatz für uns erledigt gewesen, das Olympische Dorf war frei.
Der Einsatz war aber noch nicht vorbei.
Nein. Nach ein paar Minuten gab es eine ominöse Mitteilung - ominös, weil wir bis heute nicht wissen, woher - in Fürstenfeldbruck wäre alles gut gelaufen, die Täter wären festgenommen und die Geiseln wären frei. Dann ist natürlich die Euphorie ausgebrochen, das können Sie sich vorstellen. Das hat aber nur ein paar Minuten gehalten. Dann hat es geheißen: "Kommando zurück, das stimmt alles nicht. In Fürstenfeldbruck ist eine wilde Schießerei im Gange. Es hat Tote und Verletzte gegeben." Wir, also ich mit meinem Zug, sollen in einem Hubschrauber sofort nachfliegen und die Kräfte in Fürstenfeldbruck bei der Festnahme der letzten Täter unterstützen. Die Hubschrauber waren tatsächlich im Minutenbereich da. Die Piloten haben über ihren Funk gehört, dass bei den Verletzten und Toten unter Umständen auch die Piloten der beiden letzten Maschinen wären. Die haben sofort den Hubschrauber einen Kilometer vom eigentlichen, erleuchteten Flugfeld abgesetzt und sind weggelaufen. Ist auch klar, die wollten das nicht erleben. Das ist logisch. Wir haben mehr oder weniger hilflos im Finsteren gestanden.
Wie haben Sie sich in dem Chaos orientiert?
Ich hatte zufälligerweise in meinem Zug mehrere Zwölfender - Zeitsoldaten, die sich zwölf Jahre verpflichtet haben. Da waren zwei Leute dabei, die in Fürstenfeldbruck beim Bodenpersonal waren. Die haben sich natürlich bestens ausgekannt. Die Orientierung da draußen war also möglich. Es waren aber auch noch andere dabei, zum Beispiel Fallschirmspringer. Die waren für so einen möglichen Einsatz gerüstet, im Gegensatz zu uns ganz normalen Straßenpolizisten. Wir sind in Richtung des Vorfelds gegangen und haben uns vorgearbeitet. Wir wussten nicht, wer noch frei ist und wer nicht. Das waren alles noch vage Geschichten. Auf halbem Weg ist uns ein Panzerwagen der Bereitschaftspolizei entgegengekommen. Da hat der Vizepräsident Dr. Wolf drinnen gesessen und uns den Ist-Stand erzählt. Dass die Geiseln mittlerweile alle tot sind, dass fünf der Täter tot sind, dass drei irgendwo herumlaufen und dass der Kollege Fliegerbauer schwerstverletzt ist. Das haben wir von ihm erfahren und den Auftrag bekommen, uns daran zu beteiligen, diese Täter noch zu erreichen.
"Hin zu dem einen Hubschrauber! Der andere war explodiert"
Wie sind Sie dabei vorgegangen?
Wir haben uns zu dem noch heilen Hubschrauber vorgearbeitet. Der andere war schon explodiert, als wir noch nicht da waren. Wir haben nur von der Ferne gesehen, wie der noch raucht und brennt. Die Feuerwehr hat sogar schon gelöscht, die Toten lagen alle im Löschschaum. Wir haben uns zum ersten Anhaltspunkt, dem Hubschrauber, vorgearbeitet. Dort haben wir gesehen, dass die israelischen Geiseln gefesselt und zusammengesunken im Hubschrauber gesessen haben und sich einer der Täter offensichtlich über die Beine der Geiseln gelegt und sich mehr oder weniger totgestellt hat. Die Hand über dem Boden, auf dem Handgranaten lagen. Da haben mir meine Zwölfender gut geholfen, denn die haben gewusst, wie man mit so einer Situation umgeht. Wir haben den festgenommen und gleich danach erfahren, dass er sowieso der Letzte war. Die anderen beiden wurden von anderen Kräften festgenommen. Damit war der Einsatz zu Ende.
Walter Renner: "Ich bin Polizist. Natürlich kann ich das nicht vergeben"
Hatten Sie zu irgendeinem Zeitpunkt Angst?
Ich war zu dem Zeitpunkt seit 15 Jahren Polizist. Im normalen Dienst erleben Sie auch gefährliche Situationen. Wir sind überall hingefahren, wenn jemand 110 gerufen hat. Dann gewöhnt man sich in einem bestimmten Maße auch daran. Man lernt, mit solchen Situationen umzugehen, vorsichtig zu sein und sein Umfeld anders wahrzunehmen. Angst hätte man vielleicht hinterher gehabt. Aber zu dem Zeitpunkt sind Sie einfach in der Spannung. Selbst wenn Sie Angst haben - vermutlich haben Sie Angst, zumindest der Körper - sind Sie sich dessen nicht bewusst. Das sind so psychologische Erkenntnisse, die man in solchen Situationen gewinnt.
Einer der Terroristen zeigt im Film keinerlei Reue, er wäre "jederzeit wieder bereit". Können Sie diesen Menschen vergeben?
Ich bin Polizist. Natürlich kann ich das nicht vergeben. Sich so zu verhalten, auf Menschenleben und -gesundheit keine Rücksicht zu nehmen - in unserer Kultur geht das nicht. Wir haben ja die Zivilisation und diese Spielregeln untereinander eingeführt, dass man so etwas eben nicht macht.
Hat Sie dieses Ereignis als Mensch verändert?
Natürlich beeinflusst Sie das. Die ersten paar Nächte habe ich gar nicht geschlafen. Die Bilder, die wir da draußen gesehen haben, das nimmt einen natürlich mit. Auch einen erfahrenen Polizisten. Alltäglich ist sowas ja nicht, mit Verlaub gesagt. Ich habe auch meine persönliche Lehre daraus gezogen. Mich hat am allermeisten geärgert, dass wir so blauäugig in so einen Einsatz reingegangen sind. Das hat mich sehr gestört. Das muss man doch besser machen können!