Polizist im Interview zum OEZ-Attentat: "Es hätte jeden treffen können"

München - Fast fünf Jahre ist es her, dass der damals 18-jährige Deutsch-Iraner David Sonboly erst eine Schusswaffe im Darknet bestellte und damit wahllos neun junge Menschen rund um das OEZ tötete.
Polizist Oliver Timper spricht erstmals über den Anschlag am OEZ
Er sorgte damit für einen der dunkelsten Tage in der Geschichte der Stadt. Sonboly floh an dem Abend zunächst und erschoss sich dann selbst - mit der selben Waffe, mit der er neun Menschen aus dem Leben gerissen hatte.
Als Mitarbeiter der Pressestelle bei der Münchner Polizei eilte Oliver Timper am 22. Juli 2016 mit Blaulicht zum OEZ. Sonboly war zu der Zeit auf der Flucht. Doch all das wusste Timper nicht. Was ihn am OEZ erwartete, ahnte er kaum. Es sind Bilder, die ihn und seine Kollegen bis heute verfolgen.
Mit der AZ spricht Oliver Timper erstmals über den Anschlag, die Schlaflosigkeit nach dem Einsatz - und warum sich dieser Tag für immer in das Gedächtnis eingebrannt hat.
AZ: Herr Timper. An besonders schlimme Tage erinnert sich jeder lebenslang ganz genau - wie etwa an den 11. September 2001. Wie ist das bei Ihnen mit dem 22. Juli 2016, kurz vor 18 Uhr?
OLIVER TIMPER: Ich erinnere mich an viele Einzelheiten dieses Abends. Wenn ich sagen würde: an jede Minute, wäre das aber falsch. Im Nachhinein glaube ich, voller Adrenalin gewesen zu sein. Vieles rauschte an mir vorbei. Ich musste meiner Aufgabe als Polizist sowie Mitarbeiter der Pressestelle gerecht werden.
Unterhalten Sie sich so lange danach mit Kollegen über diesen Anschlag?
Vor allem zum 22. Juli, wenn sich der Jahrestag nähert, ist das ein großes Thema. "Was hast du damals gemacht, warst du auch am Einsatzort?" Viele Kolleginnen und Kollegen stehen immer noch unter dem Eindruck dieses schrecklichen Tages und arbeiten das bis heute auf. Man erfährt immer wieder intensive, fest haftende Eindrücke.
"Ich zog meine schusssichere Weste an und fuhr zum Tatort"
Und wo waren Sie, als Sie den Anruf bekamen, zum Einsatzort am OEZ zu kommen?
Ich hatte Feierabend, kam zu Hause an, im Münchner Westen - und war gerade durch die Haustüre gegangen. An dem Tag hatte ich zufällig einen Dienstwagen. Also legte ich meine schusssichere Weste an, stieg wieder ins Auto, schaltete das Blaulicht an und fuhr auf dem schnellsten Weg zum Tatort.
Was sagte Ihnen der Kollege am Telefon?
So etwas wie: "Da war eine Schießerei am OEZ, so schnell wie möglich hinfahren!"
Haben Sie eine besondere Erinnerung an die Fahrt zum Tatort?
Am Autobahnring fuhren bereits die Einsatzfahrzeuge mit Blaulicht in der Kolonne. Es war wie ein blaues Lichtermeer. So etwas hatte ich zuvor noch nie gesehen. Da wurde mir klar: Das ist kein gewöhnlicher Einsatz. Hier ist irgendetwas Größeres, etwas Schlimmes passiert.
Was ist Ihre erste Erinnerung am Einsatzort?
Es hatten sich Menschentrauben an den Absperrungen gebildet. Ich ging hindurch zum örtlichen Einsatzleiter am Tatort, weil ich für die mediale Aufbereitung so schnell wie möglich Informationen brauchte. Es war etwa 18.20 Uhr. Keiner wusste in den ersten Stunden, wie die Lage genau war.
"Nach Nizza war klar: Falschmeldungen werden kursieren"
Wie ist Ihr Gespräch mit dem Einsatzleiter gewesen?
Er war kaum ansprechbar, völlig außer Atem, weil er - glaube ich - überlegte, wo der oder die Täter sein könnten. Und ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass durch seine schusssichere Weste der Schweiß tropfte, was eigentlich unmöglich ist, weil so eine Weste sehr dick ist.

Ahnten Sie schon, dass an dem Abend so viele Falschinformationen über die sozialen Medien wabern könnten?
Ich rechnete damit, aufgrund zurückliegender Einsätze, ja.
Warum?
Aus Erfahrung. Kurz vorher fand ja der Anschlag in Nizza statt. Der Mann, der mit einem Lkw über die Strandpromenade raste und Dutzende von Menschen tötete. Auch dort verbreiteten sich tagelang Falschinformationen über die Sozialen Medien.
Was sagte der Einsatzleiter zu Ihnen eigentlich?
Zuerst gar nichts, dann irgendwann: "Es hat Schüsse gegeben, als wir ankamen. Es gab Verletzte und vermutlich auch Tote, am OEZ-Eingang."
"Ich dachte sofort an einen Terroranschlag"
Was taten Sie dann als Nächstes?
Ich zog meine Waffe und ging quer durch die Absperrung Richtung Süden, weil ich eine Kollegin der Pressestelle finden wollte, um mich mit ihr abzusprechen. Da merkte ich, dass ich ganz nah am Tatort stehe, in der Nähe des McDonald's. Auf dem Boden lagen Patronenhülsen. Und ich sah zwei der Opfer, die abgedeckt am Boden lagen. Das alarmierte mich nochmals. Jetzt wusste ich: Das ist der absolute Ernstfall. Ich dachte sofort an einen Terroranschlag.
Hatten Sie in irgendeiner Form Angst?
Alle Polizisten sind auf Extremsituationen grundsätzlich gut vorbereitet. Angst hatte ich nicht. Ich fühlte Trauer. Denn kurz vorher verbreitete sich dieses Video vor dem McDonald's über die Sozialen Medien, auf dem der Attentäter auf Passanten schoss. Und ich dachte mir: Hoffentlich müssen die Angehörigen nicht über dieses schreckliche Video erfahren, dass sie jemanden verloren haben. Ich hoffte darauf, dass die Angehörigen auf andere Weise über das Ableben ihrer Angehörigen informiert werden.
Wissen Sie heute, fünf Jahre später, ob es so war?
Nein. Ich habe es nie herausgefunden. Aber es ist ein schrecklicher Gedanke, dass es nicht so gewesen sein könnte.
Wann wussten Sie, dass es sich um einen Einzeltäter handelte?
Erst sehr spät am Abend. Gegen 19 Uhr war das noch völlig unklar. Es hätten auch mehrere Täter sein können. Deswegen setzten wir, meine Kollegen und ich, jetzt alles daran, die Leute von der Straße zu bekommen. Wir forderten die Schaulustigen auf, die Absperrungen zu räumen und nach Hause zu gehen.
"Münchner boten anderen Menschen spontan Unterschlupf"
Oberbürgermeister Dieter Reiter hatte an dem Abend entschieden, alle öffentlichen Verkehrsmittel stillzulegen, um zu vermeiden, dass Attentäter neue Anschlagsziele haben.
Daher fragten uns viele eben, wie sie heimkommen sollen. Deshalb suchten sie sich Schutz in einem geschlossenen Raum. Dazu hatten wir sie über alle uns zur Verfügung stehenden Kommunikations-Kanäle ebenfalls aufgefordert, bis Entwarnung kommt. Auch über die Pressevertreter verbreiteten wir die Info, in den kommenden Stunden die Öffentlichkeit zu meiden. So entstand ja auch der Hashtag #opendoors an diesem Abend. Münchner boten anderen Menschen spontan Unterschlupf. Diese magische Hilfsbereitschaft der Münchner untereinander und auch gegenüber der Polizei werde ich nie vergessen.
Wo fanden Sie selbst Unterschlupf?
Das werde ich auch nie vergessen. Ein Autohändler bot uns an, den ganzen ersten Stock zu räumen, um ihn als Presseraum umzufunktionieren. Das hat ein Kollege der Feuerwehr vermittelt. Das Angebot nahmen wir an. Sogar Getränke wurden bereitgestellt. Spontan wurden alle Ausstellungsfahrzeuge entfernt. Den Großteil des Abends verbrachten wir dann dort, gemeinsam mit den Pressevertretern. So konnten wir die Journalisten immer auf dem neuesten Stand halten.
"Jedes Knallgeräusch in der Stadt wurde als Schuss interpretiert"
Und dann brach das Handy-Netz zusammen.
Wir konnten zwar noch über Funk kommunizieren, waren jedoch für unsere Familienangehörigen nicht über das Handy erreichbar. Das war deshalb auch für sie eine belastende Situation. Keiner kannte die Lage und konnte sich vergewissern, dass es auch uns gut geht.
War es keine Option, in das Polizeigebäude an der Ettstraße zu fahren - für Sie und die Journalisten?
Die Lösung im Autohaus funktionierte gut. Das Gebäude wurde von Kollegen gesichert, wir fühlten uns nicht gefährdet. Während des Abends herrschte ja in München vielerorts Unsicherheit. Überall wurden Attentäter vermutet. Es entstanden sogenannte Scheintatorte. Jedes Knallgeräusch wurde als Schuss interpretiert. Innerhalb kürzester Zeit kamen Dutzende neue Scheintatorte hinzu. So etwas habe ich noch nie erlebt. In Nizza haben sich übrigens noch drei Tage danach Scheintatorte über Twitter entwickelt, konnte ich im Nachgang erfahren.
Kam es auch zu diesen Missverständnissen, weil einige Münchner die Zivilpolizisten in der Innenstadt mit Attentätern verwechselten?
Auch das war einer von vielen Faktoren und passierte teilweise trotz Kennzeichnung. Wir bekommen übrigens jetzt gerade neue schusssichere Westen, auf denen vorne und hinten noch auffälliger die Aufschrift "Polizei" zu lesen ist. So sollten Verwechslungen künftig vermieden werden können. Andererseits haben mir Kollegen erzählt, dass die Menschen auch bei uniformierten Polizisten erschrocken sind, als sie zum Beispiel das OEZ nach Attentätern abgesucht haben. Sie dachten offenbar, es könnten verkleidete Attentäter sein. Das subjektive Sicherheitsgefühl der Münchner war an dem Abend enorm gesunken.
Im Hofbräuhaus schlugen Gäste Fenster ein, um zu fliehen.
Auch hier haben anscheinend viele Menschen Knallgeräusche mit Schüssen verwechselt. In der Innenstadt fiel aber kein einziger Schuss.
Wann beruhigte sich die Lage an dem Abend?
Ganz langsam, gegen 23 Uhr, entspannte sich die Lage etwas - so weit das in einer solchen Ausnahmesituation möglich ist.
Welche Rolle spielte es, dass sich der Attentäter getötet hatte?
Das wusste da kaum jemand. Auch ich nicht.
Wie lange waren Sie im Einsatz?
Etwa bis vier Uhr morgens. Gegen ein Uhr, am 23. Juli also, haben wir erfahren, dass sich jemand selbst getötet hatte. Da wurde erst so langsam klar, dass es sich ziemlich sicher um einen Einzeltäter handelte.
"Manche Kollegen schrecken bis heute nachts aus dem Schlaf"
Wie verliefen die Tage danach?
Wir hatten Dutzende Vermisstenanfragen auf Facebook und Twitter, arbeiteten fast drei Tage durch, mit ganz wenig Schlaf, um alles zu beantworten. Der Informationsandrang war enorm. Wir hatten zudem Tausende private Anfragen.
Haben Sie den Abend verarbeitet?
(denkt einige Sekunden nach) Ich glaube schon. Aber es lässt einen nicht los. Wenn ich am OEZ vorbeifahre, lässt mich das nicht kalt. Ich halte jedes Mal kurz inne, muss an die Angehörigen denken. Ich habe selbst drei Töchter. Oft denke ich mir: Meine Töchter gehen auch hin und wieder gerne in ein Fast-Food-Restaurant. Es hätte jeden treffen können. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich kann die Ereignisse rund um den 22. Juli 2016 als damaliger Pressemitarbeiter mit einer gewissen Distanz erzählen. Ich glaube, es hat andere Kollegen viel härter erwischt.
Welche meinen Sie?
Diejenigen, die als allererste am Tatort ankamen. Es war einer der schwersten Anschläge in München. Einige erzählten, dass sie mit ansehen mussten, wie Verletzte vor ihren Augen gestorben sind, ohne ihnen helfen zu können. Wir sind alle nur Menschen. So etwas ist extrem traumatisierend, auch wenn man als Polizist damit rechnen muss. Ich höre, dass manche Kollegen noch heute nachts aus dem Schlaf hochschrecken mit diesen Bildern. Sie gehen nicht aus dem Kopf.