Polina Gordienko: In München liegt Freiheit in der Luft

München - Fast wäre alles umsonst gewesen. Sie hatte ihrem Vater einfach die Adresse der Schule gegeben. "Fahr da hin", hatte sie gesagt und befürchtet, dass ihr Vater einfach nein sagen würde. Doch zu ihrer Überraschung fuhr er los, und hielt vor dem Internat Max-Josef-Stift.
Lange hatte sich Polina Gordienko auf diesen Moment vorbereitet. Sie hatte Deutsch gelernt, und als sie herausfand, dass sie, um am Internat genommen zu werden, auch Französisch können musste, lernte sie das auch – heimlich, wenn die Eltern schliefen.
Gordienko mit 14 in München: Chance genutzt
Als sie mit ihrer Familie dann in München im Urlaub war, wusste sie: Das war ihre Chance, die musste sie nutzen. Im Internat angekommen, lief die damals 14-Jährige ins Sekretariat und erklärte: "Ich will hier zur Schule gehen!"
Wenn Polina Gordienko heute diese Geschichte erzählt, muss sie lachen. "Ich kann immer noch nicht wirklich glauben, dass das damals geklappt hat", sagt sie.
Geboren im Norden Russlands war Polina Gordienko mit ihren Eltern als Kleinkind nach Minsk gezogen, der Hauptstadt von Belarus – dem kleinen Land, das zur Zeit wegen der Proteste und Streiks so prominent in der Öffentlichkeit steht.
Gordienko: "Der Marienplatz wirkte auf mich wie in einem Märchen"
"Ich war dort nie frei", erzählt die heute 21-Jährige. "Es herrscht überall Angst." Als fast alle ihre Mitschüler in regimetreue Jugendorganisationen eintraten, weigerte sie sich. "Das war damals ein Skandal", erinnert sich Gordienko. "Ich war immer eher eine ruhige Schülerin und dann das."
Im Anschluss seien sofort Lehrer auf sie zugekommen: "Du kannst das nicht machen", hätten sie gesagt. Doch Gordienko blieb standhaft. Mit zwölf kam sie das erste Mal nach München, um bei einem Tennisturnier anzutreten. Sie fuhr mit dem Bus. "Das hat ungefähr eineinhalb Tage gedauert", erzählt sie.
Gordienko kam spät abends an, vom Busbahnhof an der Hackerbrücke lief sie gleich zum Marienplatz. "In München liegt die Freiheit in der Luft", schwärmt sie noch heute. "Der Marienplatz wirkte auf mich wie in einem Märchen."
Auf dem Weg zurück nach Belarus weinte Gordienko fast die ganze Fahrt lang. Zuhause angekommen nahm sie sich vor, nach München zu ziehen.

"Viele junge Münchner interessieren sich nur wenig für Politik"
Heute ist Gordienko Münchnerin. Nachdem sie sich im Max-Joseph-Stift vorgestellt hatte, bekam sie tatsächlich einen Platz im Internat. Ihre Eltern fanden das nicht gut. "Meine Eltern haben bis zum Schluss gesagt, dass sie mich nicht meinen Flug nach München nehmen lassen."
Auch mit dem Schülervisum gab es erst Probleme. "Es war schon schwierig", sagt Gordienko. "Aber ich wusste, wenn ich in München lebe, bin ich der glücklichste Mensch auf Erden."
In der Schule strengte sie sich an, macht hier mit einem Schnitt von 1,0 Abitur. Auch danach wollte sie unbedingt in der Stadt bleiben, um die sie so hart gekämpft hat und begann ein Studium an der LMU. "Philosophie und VWL", erzählt sie.
Mit ihrer neuerworbenen Freiheit wollte Gordienko auch etwas anfangen. "Mir ist aufgefallen, dass ganz viele junge Münchner sich nur wenig für Politik interessieren", bedauert sie. Gerade in der Kommunalpolitik sei das spürbar, "und die erreicht die Leute doch eigentlich am direktesten".
Gordienko in München: Erlebnis Wahlkampf
Gordienko beschließt also, sich politisch zu engagieren. Auch in welcher Partei ist ihr gleich klar. "Ich wusste sofort, dass ich in die SPD wollte", sagt sie. Ihr gefallen die sozialen Aspekte, für die die Partei eintritt: "Die SPD setzt sich für die Schwächeren ein."
Außerdem bewundert sie die Vergangenheit der alten Arbeiterpartei. "Ich habe mich schon immer für Geschichte interessiert", erzählt sie. "Ich glaube viele Leute vergessen, wofür sich die SPD immer eingesetzt hat und was sie erreicht hat."
Von ihrem SPD-Ortsverein Obersendling und Thalkirchen wird Gordienko als Kandidatin für den Bezirksausschuss (BA) aufgestellt. Sie entscheidet sich, auch für den Stadtrat zu kandidieren – auf einem der hinteren Listenplätze. "Da ging es mir darum, beim Wahlkampf dabei zu sein", erzählt sie.
Die Wahl in den Bezirksausschuss gewinnt sie und ist das jüngste BA-Mitglied in München. Prompt wird sie auch zur zweiten stellvertretenden Vorsitzenden gewählt und zur Vorsitzenden für den Ausschuss Soziales, Bildung und Sport. "Das ist so eine große Rolle", sagt sie stolz.
Vor Kurzem durfte sie in ihrem Bezirk eine neu eröffnete Schule besichtigen. "Dass ich als Politikerin mal in München eine Schule besuchen würde, das hätte ich mir nie vorstellen können." Es gibt nicht viele Leute, die über die Arbeit im Bezirksausschuss so begeistert sprechen wie Polina Gordienko.

"Die Folter ist nicht neu, es ist nur neu, dass darüber berichtet wird"
Ein bisschen frustrierend, findet es Gordienko daher, wenn sich junge Leute nicht für Kommunalpolitik interessieren. Deshalb versucht sie über soziale Medien, wie Instagram, ihre Arbeit auch Jugendlichen nahezubringen. In kurzen Videos erklärt sie geduldig und verständlich, was ein Bezirksausschuss tut und womit sie sich dort gerade beschäftigt.
"Inzwischen wissen alle meine Freunde, was ein Bezirksausschuss ist, und was ich da mache", sagt Gordienko und lacht. In letzter Zeit klärt sie in ihren Videos auch immer wieder über die Situation in Belarus auf. "Wenn ich früher gesagt habe, ‘ich komme aus Belarus’ konnte damit niemand etwas anfangen", sagt sie. "Wenn mir noch vor einem halben Jahr jemand erklärt hätte, dass das Land heute so in der Öffentlichkeit steht – ich hätte es nicht geglaubt."
Freunde in München hätten früher oft nicht gewusst, wie autoritär das kleine Land im Osten Europas gewesen sei. "All diese Folter und Misshandlungen sind nicht neu", sagt Gordienko. "Es ist nur neu, dass darüber berichtet wird."
Wer mit Polina Gordienko durch München geht, sieht die Stadt durch die Augen von jemandem, der kämpfen musste, um hier sein zu können. "Es klingt vielleicht komisch", sagt sie. "Aber die Leute hier gehen mit einer Leichtigkeit und Freiheit."
Gordienko hofft, dass den Münchnern diese Freiheit bewusst ist, und dass sie sie zu schätzen wissen. Dafür will sie sich weiterhin engagieren, vorerst nur im Bezirksausschuss, wo – wie sie sagt – die Politik die Menschen am meisten berührt.
Proteste in Belarus: Das sollten Sie wissen
Ein rot-weißes Fahnenmeer auf den Straßen, misshandelte Demonstranten – und Entführungen auf offener Straße: Die Bilder der Proteste in Belarus sind wohlbekannt.
Doch warum protestieren die Menschen in dem kleinen europäischen Land? Auslöser ist die manipulierte Präsidentschaftswahl dieses Jahr. Der Diktator Aljaksandr Lukaschenko, der das Land nun 26 Jahre regiert, war am 9. August mit einer angeblichen Zustimmung von 80 Prozent wiedergewählt worden. D
ie Oppositionskandidatin Swjatlana Zichanouskaja musste inzwischen sogar das Land verlassen, wegen der massiven Drohungen gegen sie und ihre Familie. Sie war zur Wahl angetreten, nachdem ihrem Mann Sjarhej die Teilnahme bei der Wahl verwehrt wurde und er inhaftiert worden war.
Gründe für den Protest gibt es allerdings mehrere: Neben dem korrupten politischen System geht es den Protestierenden unter anderem auch um die zunehmende Abhängigkeit von Russland und das schlechte Krisenmanagement in Zeiten von Corona. Die rot-weißen Fahnen – das Protestsymbol – stammen aus der Zeit, bevor Belarus ein Sowjet-Staat war.
Historische Bilder: Münchner Vorstadt, die es nicht mehr gibt