Plötzlich Homeschooling-Lehrerin: Münchner Mutter schickt Rechnungen ans Kultusministerium

Anja Voss wollte als Lehrerin bezahlt werden, weil sie für das Homeschooling ihren Job aufgab. Das Ministerium sieht das anders: Sie müsse doch gar nicht Lehrerin sein.
von  Hüseyin Ince
Homeschooling ist für die alleinerziehende Germanistin Anja Voss ein Vollzeitjob. Sohn Emil (9) braucht ganztägige Betreuung.
Homeschooling ist für die alleinerziehende Germanistin Anja Voss ein Vollzeitjob. Sohn Emil (9) braucht ganztägige Betreuung. © Daniel Loeper

München - Natürlich habe sie nicht zwingend damit gerechnet, dass das Bayerische Kultusministerium bezahlt, sagt die zweifache Mutter Anja Voss (51), als sie der AZ von den Homeschooling-Rechnungen erzählt, die sie dem Ministerium gestellt hat.

"Ich wollte ein Zeichen setzen für all die Eltern, die zu Hause in die Lehrer-Rolle schlüpfen müssen und den Job des Ministeriums übernehmen", sagt die Haidhauserin. Voss ist alleinerziehend. Das macht ihre Lage bei Lockdowns nicht einfacher. Und sie ist ja kein Einzelfall. Tausende Alleinerziehende manövrieren derzeit irgendwie durch die Pandemie.

Rechnungen über 10.725 Euro ans Kultusministerium gestellt

Inzwischen hat Voss mehrere Rechnungen an das Kultusministerium gestellt: 10.725 Euro, inklusive Mahngebühren. Als Selbstständige ist das ja Routine: "Für meinen Aufwand seit 16. März 2020 bis zum 24. Juli 2020 darf ich Ihnen daher als Not-Lehrerin (...) meines Sohnes in Rechnung stellen...".

Ganz nüchtern wandte sich Voss stets an das Kultusministerium, inklusive der Standard-Floskel der Freiberufler - plus einer kleinen Portion Zynismus: "Vielen Dank für Ihren Auftrag. Bitte informieren Sie mich in Zukunft nach Möglichkeit früher, wenn ich in dieser Art wieder für Sie arbeiten soll."

Als Autorin und Ghostwriterin war Anja Voss vor der Pandemie gut im Geschäft. Bücher, Vorworte, Reden hat sie (mit-)geschrieben. "Ich konnte gute Rücklagen erwirtschaften, für harte Zeiten - und habe daher noch keinen Cent Staatshilfe beantragt", sagt Voss. Sie glaubt, dass andere Familien viel dringender eine Finanzspritze brauchen.

Ihre Kinder, 3. und 9. Klasse, brauchten fortan ganztags ihre Mutter, vor allem ihr Sohn. Essen, Trinken, Arbeitsplätze auf- und abbauen, Haushalt - ein Fulltime-Job. "Meine Eltern waren anfangs nicht geimpft. Daher konnten sie mich erst nicht unterstützen", sagt sie. Aber auch jetzt, da sie geimpft sind, Voss die ein oder andere Stunde für sich habe, könne sie nicht arbeiten. "Schreiben ist kein Fließbandjob", sagt sie. Weiterhin lehnt sie alle Aufträge ab.

"Da fühlt man sich ignoriert und erst recht gedemütigt"

"Wenn ich schreibe, muss ich mich stark konzentrieren. Das ist kreative Arbeit. Ich kann nicht zwischendurch eine Stunde schnell etwas fertigstellen", sagt Voss. Und abends wenn die Kinder im Bett sind, sei sie froh, dass sie endlich ein wenig Entspannung finde. "Das geht ja vielen Eltern so - vor allem in der Pandemie", sagt Voss.

Auf die erste Rechnung antwortete das Kultusministerium noch. Auf alle weiteren nicht mehr. "Da fühlt man sich ignoriert und erst recht gedemütigt", sagt Voss.

Erst als sich die AZ beim Ministerium in der Angelegenheit meldet, bekommt Voss eine weitere Antwortmail - die erneut um Geduld und Durchhaltevermögen bittet. Das Kultusministerium fordere ja gar nicht, dass Eltern die vollwertigen Ersatzlehrer sein sollten. Vielmehr müssten sie ja "nur" die Rahmenbedingungen für Homeschooling schaffen.

Für Anja Voss geht das völlig an der Realität vorbei. "Ich kann meinen Sohn Emil, einen Drittklässler, nicht einfach vor den Computer setzen und sich selbst überlassen", sagt Voss, "er braucht mich, in allen Fächern." Und das sei eben das, was ein Lehrer in der Regel leiste.

Bei ihrer Tochter sei die Lage anders. Hier reiche es während des Homeschoolings, "wenn ich für funktionierendes WLAN und einen vernünftigen Arbeitsplatz und die Verpflegung sorge", sagt Voss. Eine Neuntklässlerin sei eben eigenständiger, auch wenn sie hier natürlich regelmäßig über die Schulter schaue, um bei Bedarf für sie da zu sein.

"Es kann nicht sein, dass das Familieneinkommen für die Bildung geopfert wird"

Das Kultusministerium sieht die Lage alternativlos. Der Freistaat erfülle weiterhin seinen Bildungsauftrag, auch in der Pandemiezeit. Frau Voss könne sich ja bei Bedarf an die Schulpsychologen wenden. Voss versteht das nicht: "Natürlich sollen Schulpsychologen während und nach dem Lockdown die Schüler gut betreuen", sagt sie, "aber wie soll mir der beim Homeschooling helfen?" Das sei doch nicht das zentrale Thema.

Auch der Elternverband findet die Lösungen des Kultusministeriums insgesamt ein wenig einfältig. Einzelne Punkte bemängelt Sprecherin Henrike Paede stark. "Es kann nicht sein, dass wie im Fall von Frau Voss das Familieneinkommen für die Bildung geopfert wird", sagt sie.

Man müsse dringend über die "Lehr- und Lernmittelfreiheit" reden. Bund und Länder sind demnach auch verpflichtet, den Schülern eine vernünftige Infrastruktur zu stellen. Aber was gehört hier im Lockdown dazu? Ein Tablet? Die anteiligen Internetkosten? Die Haushaltshilfe, die sich Eltern wie Anja Voss holen würden, um weiterarbeiten zu können? Auf all die Fragen gebe es derzeit noch keine Antwort, sagt Paede.

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