Pick & Go am Bonner Platz: Ein Besuch im Supermarkt ohne Kasse

München - Einmal durch den Supermarkt schlendern, einpacken, was das Herz begehrt, und auf direktem Weg den Laden verlassen. Das hört sich sehr verlockend an, bedeutet in diesem Fall aber nicht, dass die Lebensmittel geschenkt sind.
Pick & Go: Münchner Netto-Filiale mit digitalem Zahlungssystem
Die Netto-Filiale am Bonner Platz hat ein digitales Zahlungssystem als Pilotprojekt eingeführt. Es nennt sich Pick & Go. Das System erspart den Kunden den Gang zur Kasse. Dabei handelt es sich um ein Hybrid-Modell. Wer möchte, kann weiterhin wie gehabt an der Kasse bezahlen.

Wie Pick & Go funktioniert, hat die AZ getestet. Voraussetzung ist ein Smartphone, auf das man die Netto-App lädt. Dort legt man ein Kundenkonto an. Die App leitet Schritt für Schritt durch den Vorgang. Zuletzt wählt man eine Zahlungsmethode: Paypal oder Lastschrift.
Vor Ort wartet am Eingang ein freundlicher Mitarbeiter, der erklärt, wie es funktioniert. Das ist hilfreich, denn das kleine Pick-&-Go-Logo in der App, das man antippen muss, ist nicht gerade auffällig.
Netto am Bonner Platz: Die Technik mit Kameras erinnert an eine Raumstation
Beim ersten Mal muss das Alter verifiziert werden, denn diesen Service darf man erst ab 18 Jahren nutzen. Das tut der Mitarbeiter, indem er mit dem Kundenhandy einen QR-Code scannt.

Mit dem QR-Code, der jetzt auf dem Handy erscheint, geht es dann zu einem gesonderten Einlass mit Schranke. Dort scannt man den Code und die Schranke geht auf. Nun ist es ganz wichtig, dass man die App nicht schließt, wie der Mitarbeiter erklärt.
Und dann kann es losgehen mit dem Einkauf: Milch, Eier, Avocado und Feta landen direkt in der Einkaufstasche. Erst einmal scheint alles wie gewohnt, blickt man aber zur Decke, dann entdeckt man dort unzählige tellerförmige Sensoren, die in alle Richtungen zeigen.

Dazwischen rechteckige Kasten, das sind die Rechner. Die Technik erinnert an eine Raumstation in einem Science-Fiction-Film. Jedes Produkt, dass man aus dem Regal nimmt, oder wieder hineinstellt, wird erfasst und zugeordnet. Etwas beobachtet fühlt man sich schon.
Ist Pick & Go das Einkaufen der Zukunft?
Statt zur Kasse geht es zu einer Schranke direkt daneben. Dort dasselbe Spiel mit dem QR-Code, die Schranke geht auf und man darf den Laden verlassen. Es dauert etwa 20 Minuten, bis eine E-Mail eintrifft, die den Einkauf bestätigt, mit einer Auflistung der gekauften Artikel. Alles korrekt. Bei anderen Kunden sei die Bestätigung schon nach einer Minute gekommen, sagt der Mitarbeiter entschuldigend. Alles in allem hat der Einkauf schnell und fehlerfrei funktioniert.
Schnell, anonym, kontaktlos. Sieht so das Einkaufen der Zukunft aus? "Die Supermärkte werden sich vollkommen verändern, Pick & Go ist nur ein Teil davon", sagt Matthias Rudolph, der momentan seinen Masterabschluss an der ZHAW School of Management and Law in der Schweiz zu dem Thema "New Retail" macht.
Bereits mit seiner Bachelorarbeit hat er sich auf die neuesten Technologien im Lebensmitteleinzelhandel spezialisiert. "New Retail" beschreibt innovative, digitale Vermarktungsstrukturen, die Online- und Offlinehandel, Logistik und Technologie miteinander verschmelzen.
Was in Europa noch wie Zukunftsmusik klingt, ist in Asien und Amerika bereits greifbar. Amazon und Alibaba haben große Supermärkte dieser Art umgesetzt. Die Märkte dienen gleichzeitig als Warenlager für den Online-Lieferservice.
Einkaufen ohne Kasse: Was passiert eigentlich mit meinen Daten?
Die App bietet den Kunden zahlreiche Funktionen an. Nicht nur einen erleichterten Zahlungsprozess, über das Scannen von QR-Codes erhalten die Kunden zum Beispiel Informationen über die Lebensmittel, oder sie können sich anzeigen lassen, in welchem Regal sie das gesuchte Produkt finden. "Es dreht sich am Ende alles um Daten", beschreibt Matthias Rudolph die neue Art des Einkaufens.
Die Pandemie beschleunigt den Digitalisierungsprozess im Einzelhandel. Kontaktloses Bezahlen ist attraktiv, auch der Online-Lieferservice wurde ausgebaut. Im März letzten Jahres hat Amazon Fresh seine erste europäische Supermarkt-Filiale in London eröffnet, ausgestattet mit innovativer digitaler Technologie. Der Konzern möchte Fuß fassen auf dem europäischen Markt.
"Das hat die deutschen Konzerne unter Zugzwang gesetzt", erklärt Rudolph. Rewe ging voran und führte Pick & Go in einer Filiale in Köln ein, der erste Versuch in Deutschland. Mitte Dezember folgte nun Netto in München mit dem zweiten Pilotversuch.
Die Frage, was denn mit den Daten, um die sich alles dreht, genau passiert, kann so genau nicht beantwortet werden. Die strengen Datenschutzbestimmungen hierzulande stellen auf jeden Fall sicher, dass sie anonymisiert bleiben. Dass sie zu Marketingzwecken genutzt werden, davon ist Matthias Rudolph überzeugt: "Das passiert schon lange, zum Beispiel über die Kunden- und Paybackkarten."
Durch die Pick-&-Go-Technologie sei es möglich, eine Historie von jedem Nutzer zu speichern und das Einkaufsverhalten über längere Zeiträume zu beobachten, das schließe auch die Bewegung im Laden ein.
Den Kunden können über die App dann ganz gezielt Produkte angeboten werden, die zu ihren Vorlieben passen. Auf Anfrage der AZ weist Netto darauf hin, dass die Pick-&-Go-Technik keine Gesichtserkennung zulasse und Bewegungsdaten nur anonymisiert erfasst würden.
Nähere Auskunft über die Nutzung der Daten zu Marketingzwecken gibt Netto jedoch nicht - aus wettbewerbsrelevanten Gründen, wie die Sprecherin mitteilt.
Auch Pick & Go kostet: Denn die Computer brauchen viel Strom
Auch auf das Thema Stellenabbau in fernerer Zukunft wird nicht näher eingegangen. Es handle sich im Moment um ein Hybrid-Konzept und die Mitarbeiter seien weiterhin vor Ort, lautet es nur.
"Der Stellenabbau wird auf jeden Fall kommen, das steht außer Frage", schätzt Rudolph die Entwicklung ein. "Die Sensoren können erfassen, wo Regale aufgefüllt werden müssen. Es gibt Roboter, die Regale einräumen, es gibt Reinigungsroboter. Am Ende wird kein Personal mehr benötigt." Und dann ist da noch ein weiterer großer Knackpunkt: Server, Rechner und Sensoren verbrauchen unheimlich viel Strom.
Nicht zuletzt steht auch die Frage im Raum, ob die Kunden das wollen: Einkaufen gänzlich ohne sozialen Austausch. Gerade für einsame Menschen ist der Einzelhandel ein wichtiger Ort, um mit anderen in Kontakt zu kommen - und sei es nur bei einem kurzen Ratsch mit der Kassiererin.
Der Anonymisierung wollen die Konzerne mit sogenannten "Erlebnismärkten" entgegenwirken. Gastronomie und Aufenthaltsräume sollen dort als sozialer Treffpunkt dienen.
Es wird durchaus an alles gedacht. Nur auch an die ältere Generation? Für manche älteren Menschen ist der Umgang mit Handy und App eine große Herausforderung.
"Das ist den Konzernen natürlich bewusst, daher wird es auch noch eine Weile dauern, bis sich Systeme wie Pick & Go gänzlich durchsetzen. Die Entwicklung wird schrittweise über Hybrid-Konzepte stattfinden", sagt Matthias Rudolph.
Science-Fiction im Supermarkt wird wohl in naher Zukunft noch kein Standard sein.