"Pfleger, Angehörige, Heimleiter - alle haben Angst!"

Einzelfälle? Nach den schockierenden Bildern, die RTL in einem Münchner Heim gedreht hat, sagt Pflege-Experte Claus Fussek: „Das ist Alltag.“ Er kritisiert ein System des Schweigens
von  Tina Angerer
Pflege in Deutschland: Jetzt gibt es Kritik an den Zuständen im St.-Josef-Heim (kleines Bild)
Pflege in Deutschland: Jetzt gibt es Kritik an den Zuständen im St.-Josef-Heim (kleines Bild)

Einzelfälle? Nach den schockierenden Bildern, die RTL in einem Münchner Heim gedreht hat, sagt Pflege-Experte Claus Fussek: „Das ist Alltag.“ Er kritisiert ein System des Schweigens

München Misshandelte Senioren, überforderte Pfleger: Die Empörung über die Bilder aus St. Josef ist groß, KVR und Münchenstift haben reagiert. Pflege-Experte Claus Fussek hält diese Reaktionen für scheinheilig.

AZ: Herr Fussek, sind solche Zustände wirklich Alltag?

CLAUS FUSSEK: Absolut. Das ist kein Münchenstift-Problem. Das RTL-Team hätte in jedem zweiten Heim drehen können – leider.

Warum klingt es dann jetzt so, als sei das eine bedauernswerte Ausnahme?

Das ist ja der eigentliche Skandal: Man weiß das seit Jahren – und keiner sagt etwas. Ärzte, die in die Heime kommen, sehen es jeden Tag – und schweigen. Notärzte, Rettungsassistenten sehen es – und schweigen. Angehörige, Pfleger, Heimleiter, alle wissen es - und schweigen.

Warum?

Sie haben alle Angst. Angehörige haben Angst, wenn sie sich beschweren, dass es an ihrem Vater oder ihrer Mutter ausgelassen wird. Heimleiter haben Angst um den Ruf ihrer Einrichtung. Pflegekräfte haben Angst um ihren Job.

Münchenstift-Chef Sigi Benker sagt, der Pflegeschlüssel sei „organisierte Unterversorgung.“

Das stimm. Aber dann dürfte Herr Benker solche Pflegevereinbarungen doch gar nicht unterschreiben. Dann müsste er doch endlich sagen: „So ist eine menschenwürdige Pflege nicht möglich.“ Es wäre doch an der Zeit, die guten Pflegenoten zurückzuziehen und zu sagen: „Ab sofort machen wir das Spiel nicht mehr mit.“ Dazu kommt: Der Pflegeschlüssel existiert nur auf dem Papier. Es fehlt an Fachkräften. Planstellen werden besetzt mit Auszubildenden, mit Hilfskräften, mit Menschen, die nicht deutsch sprechen, die aus der Zeitarbeit kommen, die für den Job nicht geeignet sind. Dazu kommen ein hoher Krankheitsstand und viel Fluktuation.

Gibt es über tatsächliche Anwesenheit Zahlen?

Nein, es gibt keine ehrlichen Statistiken – ich frage mich, warum der Medizinische Dienst der Krankenkassen das nicht erhebt. Wenn ich da immer irgendwelche Zahlen höre, sage ich: Geht doch rein in die Heime und schaut nach, wie viele Menschen da tatsächlich sind.

Was ist die Wahrheit?

Die Wahrheit ist: Wenn zwei Menschen 30 Pflegebedürftige versorgen, dann ist das nicht zu schaffen. Personalmangel ist vorsätzliche Körperverletzung. Ein Tierheim würde man dichtmachen. Ich war gerade in einer Altenpflegeschule. Was 30 Schülerinnen und Schüler da erzählt haben, ist kaum auszuhalten. Zum 1000. Mal hörte ich da die pflegerische Bankrotterklärung. Die überwiegende Mehrheit wird auf Planstellen verheizt – was verboten ist. Sie werden allein gelassen. Doch auch sie haben Angst, die Wahrheit öffentlich auszusprechen.

Was muss passieren, damit sich etwas ändert?

Wir brauchen einen Aufschrei, wir brauchen endlich die Wahrheit auf dem Tisch. Jeder, der seine Mutter oder seinen Vater im Heim hat und seit vier Wochen nicht zu Besuch war, sollte sich schleunigst auf den Weg machen und endlich selbst nachschauen und mithelfen. Pflegekräfte müssen endlich ehrlich dokumentieren, wie sie arbeiten müssen. Heimleiter und Ärzte müssen den Mund aufmachen. Sie alle müssen sich zusammentun und einen großen Hilfeschrei starten. Wenn es eine Flutkatastrophe gibt, dann hilft die gesamte Gesellschaft mit, aber wir kriegen keine menschenwürdige Versorgung unserer Alten hin.

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