Pflege daheim- Mission impossible
Pflege daheim ist ein Full-Time-Job voller Entbehrungen. Traute Romanenko macht es für ihre Mutter – sie kann sich den selbstlosen Einsatz auf Dauer gar nicht leisten.
München "Zeit für mich, die muss ich mir stehlen“, sagt Traute Romanenko. Ihre Augen sind glasig. Dann aber schüttelt die kleine Frau ihren Kopf und sagt mit Nachdruck: „Aber wir wollen das so. So und nicht anders.“
Traute Romanenko ist 59 Jahre alt. Vor 13 Jahren hat sie ihre Mutter Christine Wursthorn zu sich geholt. Die ist seit sechs Jahren bettlägerig – und seit sechs Jahren geht Traute Romanenko nicht mehr arbeiten. Sie pflegt ihre 87-jährige Mutter, jeden Tag, jede Stunde.
Zuerst wollte ihre Mutter nicht kommen. Die neue Umgebung, die fremden Menschen, die kleine Wohnung – das alles war nichts für sie. „Aber ich habe ihr gesagt: Du kannst nicht ganz alleine auf dem kleinen Hof leben, ohne Hilfe. Entweder wäre sie in ein Heim gekommen oder aber zu uns.
Und da haben meine zwei Brüder, mein Lebensgefährte und ich uns entschieden, sie zu uns nach Haar zu holen.“ Romanenko ist in Simonswald im Südschwarzwald mit zwei jüngeren Brüdern auf einem kleinen Bauernhof aufgewachsen. Ihre Kindheit sei einzigartig gewesen, sagt sie, auch wenn nicht viel Geld da war. Frau Romanenko hatte eine behütete Kindheit, anders als ihre Mutter.
Am 4. Dezember 1926 wird sie in Ostpreußen geboren. Als sie 14 ist, stirbt ihre Mutter, ihr ältester Bruder kurze Zeit später im Krieg, ihr Vater ebenfalls. Ihr zweiter Bruder kommt in russische Gefangenschaft – Jahre später erst finden sich die Geschwister nach beschwerlicher Flucht im Schwarzwald wieder. Auch Christine Wursthorns Mann stirbt früh, sie wird mit 50 Jahren Witwe. „Viermal in ihrem Leben muss sie wahnsinnige Verluste hinnehmen“, sagt die Tochter. „So jemanden kann man doch in seinen letzten Lebensjahren nicht ins Heim stecken. Nicht nach all dem, was sie erlebt hat.“
Während Traute Romanenko im Wohnzimmer sitzt und erzählt, liegt ihre Mutter nur ein Zimmer weiter. Sie hat starke Herzinsuffizienz, ist Bronchitis-gefährdet und hat starke Osteoporose. Bei jedem Handgriff muss Traute Romanenko aufpassen, dass sie ihrer Mutter nicht die Knochen bricht. An der Zimmerdecke hängt ein Flaschenzug, mit dem sie ihre Mutter heben kann. Neben dem Bett steht ein Sauerstoffgerät, und in Kisten drum herum liegen Windeln, Unterlagen, Cremes, Tücher, Handschuhe und vieles mehr, was man zum Pflegen braucht.
Engel über ihrem Bett und ein Bild an der Wand mit einem Schwarzwälder Bauernhaus erinnern daran, dass sie in einer kleinen Wohnung liegt und nicht im Krankenhaus. Christine Wursthorn liegt in einem vollautomatischen Pflegebett. Sie hat Pflegestufe II. „Was mich an dem ganzen System so wurmt, ist die Unverhältnismäßigkeit, mit der wir Pflegenden von der Politik und den Krankenkassen behandelt werden“, sagt Romanenko.
430 Euro bekomme sie dafür, dass sie sich 24 Stunden an allen sieben Tagen in der Woche um ihre Mutter kümmert. „Das ist ein Witz“, sagt sie. Nicht annähernd deckt das die Kosten, die sie für die Pflege ihrer Mutter ausgibt. Und die 30 Euro, die ihr die Krankenkasse für Pflegeutensilien zahlt, muss sie sich jeden Monat neu erstatten lassen. Würde sie einen Pflegedienst in Anspruch nehmen, der morgens und abends 20 Minuten kommt und ihre Mutter wäscht, würde die Kasse etwas mehr als 900 Euro zahlen.
„Klar, die begründen das, weil der Pflegedienst auch Bürokosten hat und so. Aber man kann doch keinen alten Menschen würdevoll innerhalb von 20 Minuten waschen!“ Da macht sie es lieber selbst – und nimmt in Kauf, im Monat nur 430 Euro zu bekommen.
Die einzige Hilfe und Unterstützung, die sie in Anspruch nimmt, ist eine Gruppe von der Caritas, bei der sich einmal im Monat Männer und Frauen treffen, die ihre Angehörigen zu Hause pflegen. „Das ist wie Therapie für mich“, sagt Romanenko. Sie fühle sich nirgendwo sonst so verstanden, so gut mit ihren Sorgen aufgehoben wie dort. „Leider habe ich diese Gruppe erst sehr spät entdeckt, denn das hätte mir in den ersten Jahren, als die Mama zu uns kam, garantiert schon sehr geholfen.“
Vor sechs Jahren blieb ihr nur, ihr altes Leben, das sie so sehr geliebt hat, für ihre Mutter aufzugeben. Romanenko war freiberufliche Finanzwirtin, hat viel und sehr gern gearbeitet. Als ihre Mutter aber bettlägerig wurde, konnte sie keine Termine mit Kunden mehr vereinbaren. „Ich muss in meinem Beruf zuverlässig sein, und das konnte ich nicht mehr gewährleisten“, sagt sie.
Heute sehnt sie sich immer mal wieder an die Zeit damals zurück, als ihr Leben noch voller Möglichkeiten war. „Seit Jahren waren wir nicht mehr im Urlaub. Dabei würde ich so gerne mal wieder ans Meer. Und nach Verona, in die Oper“, sagt sie. Ihre Augen schweifen ab, als sie das erzählt. Früher sei sie oft mit ihrem Lebensgefährten nach Verona gefahren: sich schick machen, essen gehen und dann in die Oper. „Das wäre ein Traum“, sagt sie.
Vielleicht klappt es in diesem Jahr? Ihr Bruder würde dann kommen und sich um ihre Mutter kümmern. Aber könnte sie dann in Ruhe in der Oper sitzen? Würde sie sich keine Vorwürfe machen, falls doch etwas passiert und sie nicht da ist? Dazwischen wägt sie immer ab. Und entscheidet sich am Ende doch für ihre Mutter und den alltäglichen Tagesablauf, der um acht Uhr beginnt: die Mama trockenlegen und ihr Frühstück machen.
Am liebsten isst sie ein Vollkornbrot mit Honig. Dann wird sie gewaschen und Gymnastik gemacht. „Manchmal singen wir, das belüftet die Lunge, manchmal spielen wir mit einem kleinen Ball, denn das ist gut für die Feinmotorik“, sagt Romanenko. Zwischen 12 und 13 Uhr gibt es Mittagessen. „Natürlich was Weiches, denn die Mama kann ja noch essen, aber es muss weich sein.“
Dann schläft sie und gegen 16 Uhr gibt es einen Tee oder Kaffee und was Süßes. Abends dann isst sie wieder ein Brot. Und dann wird Fernsehen geschaut. „Die Mama schaut am liebsten den Flori Silbereisen oder die Carmen Nebel – und Wintersport. Ich persönlich finde es aber besser, wenn wir was im Privatfernsehen schauen. Denn die Werbepausen sind so lang, dass wir immer noch eine Einheit Gymnastik dazwischen bekommen“, sagt Romanenko.
Allerdings will sie sehr bald wieder arbeiten – wenn ihre Mutter soweit stabil ist, dass sie weg kann. „Ich muss wenigstens noch fünf Jahre arbeiten. Dringend“, sagt Romanenko. Nicht nur, weil sie es so gerne will, sondern weil sie für ihr eigenes Rentendasein vorsorgen muss. „Alles, was ich bisher angespart hatte, ist aufgebraucht, da muss dringend wieder Geld reinkommen.“
Romanenko hat selbst keine Kinder, die sie pflegen, wenn sie alt ist. „Ob ich je die Pflege bekommen werde, die ich meiner Mutter bieten kann, steht in den Sternen“, sagt sie. Trotz all dem würde sie es wieder so machen. Frau Romanenko sagt: „Ich bereue nichts. Der Weg, den wir mit meiner Mama gehen, ist der einzig vertretbare. Ich will meiner Mama die letzten Jahre, die sie noch hat, so angenehm wie möglich machen. Und das geht nur, indem ich für sie da bin.“
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