Peter Aicher über das neue Ankunftszentrum: "So eine Halle ist ein Pulverfass"

München - Die Stadt hat in den letzten Tagen fünf Notquartiere in Schulturnhallen geschlossen - weil fünf Wochen nach Kriegsbeginn in der Ukraine nun weniger Flüchtlinge in München ankommen, heißt es.
Nun konzentriert sich alles auf das größte Notquartier der Stadt in Riem, das am Samstag vor drei Wochen (12. März) quasi über Nacht in Betrieb gegangen ist und ab jetzt auch "Ankunftszentrum" heißt.
In den Messehallen C5 und C6 stehen Feldbetten und Not-Matratzen für rund 4.000 Kriegsflüchtlinge zur Verfügung. Ihre Betreuung hat die Aicher Ambulanz übernommen. Wie stemmt man so ein großes Projekt? Und wie läuft es? Ein Gespräch mit Ambulanz-Chef Peter Aicher.
AZ: Herr Aicher, beruhigt sich die Lage wirklich schon, drei Wochen nach Ihrem Start in Riem?
PETER AICHER: Da ist meine persönliche Wahrnehmung eine ganz andere.
Nämlich?
Dass mehr Leute denn je ankommen. Das zeigen uns ja die Zahlen. Wir haben vor drei Wochen am Samstag mit 800 Menschen angefangen, Montag waren wir bei 1450. Jetzt sind es nach diversen Ab- und Neuzugängen fast 2300, und am heutigen Freitag sollen wieder 500 kommen. Inzwischen sind wir gut organisiert. Aber der Anfang war Wahnsinn.
Aicher: "Für Geflüchtete sind wir im neuen Ankerzentrum einfach Ansprechpartner"
Erzählen Sie.
Am Donnerstag vor dem Start hat uns das Sozialreferat angefragt, ob wir bis Dienstag auf der Messe eine Notunterkunft für 4.000 Leute einrichten und danach betreuen können.
Also fünf Tage Zeit bis zum geplanten Start.
Richtig. Wir haben also über Nacht bis Freitag ein Konzept gemacht und Samstagmittag den Vertrag mit unseren Zuständigkeiten unterschrieben.
Wofür sind Sie zuständig?
Registrieren, testen, Betten zuweisen, Checkout und einfach Ansprechpartner für die Geflüchteten sein. Da hieß es dann aber: Jetzt gibt's nur ein kleines Problem, die Leute kommen in sechs Stunden schon, also quasi sofort.
Was haben Sie gemacht?
Wir haben den internen Alarm ausgelöst, um die Mitarbeiter zu mobilisieren . . .
Nach vier Stunden war alles organisiert
...wie viele erreichen Sie da?
An die 2.700. Gott sei Dank ist die Anfangsbereitschaft zu helfen immer groß. Wir hatten sofort pro Schicht 63 Leute. Um 14 Uhr war Sitzung vom Krisenstab, dann ging's los: Feldbetten und Matratzen aufbauen mit der Berufsfeuerwehr und Messe-Leuten, Catering organisieren, Registrierung und Schnellteststelle aufbauen, für die Corona-Positiven einen Transport in Quarantänehotels organisieren. Um 18 Uhr kam die erste Busfuhre.
Wie haben Sie die Ankömmlinge erlebt
Das waren viele Frauen und Kinder, auch Ältere. Da hat man das Leid in den Augen gesehen. Die Menschen haben nicht nur die Strapazen der Flucht hinter sich, sie haben auch Angst um ihre Männer und Väter daheim.
Für die Schicksale haben Sie bei der Ankunftssituation vermutlich wenig Zeit.
Überhaupt keine. Wir müssen funktionieren, die Abläufe zum Laufen kriegen. Du musst den Bus abfertigen, sonst steht gleich der zweite Bus da und dann kommt ein Flaschenhals. Und dann passieren Dinge, mit denen rechnest du nicht.
Aicher: "Wir können auf ein sehr breites Netzwerk zurückgreifen"
Wie zum Beispiel?
Dass die Menschen Tiere mitbringen. Hunde, Katzen, Meerschweinchen, sogar Ratten. Also wo krieg ich Katzenfutter her? Hundefutter? Dann büxt ein Meerschweinchen aus, der Hund hinterher, und schon hab ich natürlich Terz in der Halle. Und du brauchst einen Tierarzt, auch, damit die Tiere keine Krankheiten einschleppen.
Wie haben Sie das gelöst?
Da hat uns das Tierheim unterstützt. Futter kam über viele Spenden. Es ist dann auch der Ratz satt geworden. Ich bin sehr froh, dass wir auf ein breites Netzwerk zurückgreifen können. Allein bist du machtlos. Es geht auch plötzlich um banale Dinge, Zahnbürschtl, Tampons, Basissachen.

Für Tiere oder Hygieneartikel sind Sie doch nicht zuständig?
Richtig, darum hätte die Stadt sich kümmern sollen. Aber wenn solche Sachen nicht da sind, lösen wir das eben auch noch. Was glauben Sie, wer am Samstagabend zur Metro gefahren ist, und für ein paar Tausend Euro eingekauft hat?
Wer denn, Sie?
Genau. Ich habe dann den Thomas Bihler vom Flughafenverein angerufen. Bei der Lufthansa Business gibt es ja diese Hygiene-Sets. Wart amal, hat der gesagt. Und uns sechs mal zwölf Tonnen Hilfsgüter für die Ukraine hergeschickt, die der Verein gesammelt hat, von Windeln bis zum Lampenschirm.
Aicher: "Der Flughafenverein hat uns zwölf Tonnen Hilfsgüter geschickt"
Lampenschirme braucht's eher nicht in einer Notunterkunft.
Stimmt. Erstmal hat's in der Halle ausgeschaut wie im Supermarkt. Jetzt haben wir für die Sachen, die wir brauchen, einen Shop aufgebaut, da können die Leute sich Duschgel und Zahnpasta holen. Für die übrigen Spenden gibt's jetzt draußen eine Sammelstelle, damit die dahin weitergeleitet werden, wo man sie braucht.
Wie haben Sie sich verständigt?
Dolmetscher waren keine da. Das ist schlecht, da kann einem so ein Einsatz leicht um die Ohren fliegen. Kommunikation ist sehr, sehr wichtig. Da kommen ja auch Nachrichten rein, dass der Mann oder der Papa im Krieg gefallen ist. Also haben wir Dolmetscher besorgt, auch das war nicht unser Job. Glücklicherweise haben wir im Personal auch Leute aus Russland und der Ukraine. Das war alles eine Mammutaufgabe und ging nur, weil unsere Mitarbeiter großartig sind. Mittlerweile haben wir auch vier Vertriebene bei den Ehrenamtlern.
Aicher: "Trotz Gwusel gibt es in der Halle Struktur"
Wie helfen die?
Sie dolmetschen oder helfen, dass wir die Angaben aus Pässen, die in Kyrillisch geschrieben sind, registrieren können.
Wie funktioniert die medizinische Versorgung?
Gut. 2015 hatten wir viel mit Krätze, Läusen und TBC zu tun, die Leute waren ja wochenlang auf der Flucht. Jetzt sind viele Kinder krank, auch Säuglinge, da ist alles dabei, von Erkältungen bis Blinddarmentzündung. Wir haben eine Notfallpraxis eingerichtet, akute Fälle fahren wir ins Krankenhaus. Und wir haben viele positiv Getestete.
Wie viele?
Etwa 800 haben wir herausgefiltert, das entspricht ungefähr zehn Prozent. Die transportieren wir sofort in die Quarantänehotels. Unterm Strich muss man wirklich sagen: Es ist zwar ein Gwusel in der Halle, wie man in Bayern sagt, aber es ist trotzdem Struktur drin.
Aufenthalt in Riem maximal 48 Stunden
Wie lange bleiben die Kriegsflüchtlinge in Riem?
Sie sollen maximal 48 Stunden bleiben, länger ist ja nicht menschenwürdig mit Tausenden in einer Halle plus Hund, Katze, Ratz. Von den hygienischen Umständen gar nicht zu reden. Das ist natürlich ein Pulverfass. Wir versuchen, sie schnell weiter zu bringen, da sind wir aufs Sozialreferat angewiesen, wie schnell die arbeiten.
Klappt das, wohin werden die Menschen gebracht?
Meistens. Wir bekommen Bescheid, wann wieder ein Bus kommt, um sie zum Beispiel zu einer Unterkunft nach Rosenheim zu bringen. Die Leute melden sich dann freiwillig.
Neulich gab's Randale in Miesbach, eine Gruppe war mit der geplanten Unterbringung offenbar nicht einverstanden.
Ja, die kamen von uns. Die sind dann im Bus auf die Fahrerin losgegangen. Der Landrat hat die Gruppe wieder zu uns zurückgeschickt.
Was ist aus ihnen geworden?
Sie sind erst in die Schulturnhalle an der Riesstraße verlegt worden. Von da weg wissen wir es nicht.
"Ich freu mich, wenn's ruhiger ist"
Zuletzt soll es Probleme mit Sinti- und Roma-Familien geben, die in großer Zahl ankommen. Es ist von Randale, Diebstählen und schwierigen hygienischen Verhältnissen die Rede. Stimmt das?
Dazu äußere ich mich nicht, fragen Sie im Sozialreferat nach.
Sie haben seit mehr als zwei Jahren Dauerstress: erst die Pandemie, nun die Kriegsflüchtlinge. Wie geht es Ihnen?
Sagen wir es mal so: Neulich Abend saß ich mit meinem Betriebsleiter zusammen, wir wollten verschnaufen und drauf anstoßen, dass wir die Struktur im Griff haben. Da ging in der Halle Alarm los. Es war nur ein Fehlalarm, aber der Abend war gelaufen. Ich freu mich, wenn's ruhiger wird.
Wie lange wird die Notunterkunft in der Messe bleiben?
Keine Ahnung, das hängt von der Gesamtsituation ab.
Wenn Vitali Klitschko, der Bürgermeister von Kiew, bei Ihnen anruft und sagt, er braucht Sie dort mit zehn Rettungswagen, fahren Sie dann?
Puh. Wenn es brennt, würden wir das auch noch machen. Aber im Moment werden wir hier daheim gebraucht.