Palliativmedizin: Ein Interview über das Sterben

Claudia Bausewein leitet die Palliativ-Station im Klinikum Großhadern. Ein Gespräch über Leben und Sterben
von  Jasmin Menrad
Im Aufenthaltsraum war die Palliativmedizinerin Claudia Bausewein schon bei einigen Hochzeiten Trauzeugin.
Im Aufenthaltsraum war die Palliativmedizinerin Claudia Bausewein schon bei einigen Hochzeiten Trauzeugin. © Daniel von Loeper

 

Die Wände sind hell, ein Pfleger ruft einem Kollegen „schönen Urlaub“ zu, und auf den großen Balkonen wuchern die Pflanzen. Doch die Palliativstation in Großhadern ist für die Patienten ihre letzte Station.

AZ: Frau Bausewein, wie sagt man einem Menschen, dass er nicht mehr lange leben wird?

CLAUDIA BAUSEWEIN: Zu mir kommt kein Patient ohne Diagnose, die meisten haben eine lange Krankheitsgeschichte und wissen oft selbst, dass es zu Ende geht. Es ist schwierig, einen konkreten Zeitraum zu sagen. Wir Ärzte neigen dazu, die verbleibende Lebenszeit zu überschätzen und den Patienten noch zu viel Zeit zu geben. Aber es gibt Situationen, in denen ich sagen kann, dass Weihnachten noch weit ist.

Gibt es Patienten, die das nicht wahrhaben wollen?

Wenn der Patient fragt, wie lange er noch hat, dann frage ich oft zurück: „Was haben Sie für ein Gefühl?“ Die Einschätzung ist oft ziemlich realistisch oder eher zu optimistisch. Aber die Patienten erschrecken, wenn jemand von außen ihnen das bestätigt oder sie nach unten korrigiert.

Verdrängen manche den nahenden Tod?

Ich erinnere mich an eine 32-jährige Frau hier auf der Station. Sie hatte Gebärmutterhalskrebs mit einem Darmdurchbruch und nach der Operation nur noch wenige Wochen zu leben. Sie verbrachte mit ihrem Mann den ganzen Sommer auf dem Balkon der Palliativstation. Gemeinsam haben sie ihr Leben geplant als wäre nichts. Sie sahen aus wie ein glückliches Sommerfrische-Ehepaar. Doch viele im Team hatten ein großes Problem damit, dass die Frau in ihrer eigenen heilen Welt lebt.

Konnte sie irgendwann den Tod annehmen?

Sie hat einmal zu mir gesagt, dass sie weiß, wo es hingeht. Und dass sie das nicht aushalten kann. Deshalb will sie von anderen Dingen reden. Vier Wochen später ist sie friedlich verstorben.

Können Sie den Patienten letzte Wünsche erfüllen?

Im Angesicht der Schmerzen denkt niemand an eine große Reise. Die Menschen wünschen sich Schmerzlinderung, um einmal an den nächsten Tag denken zu können. Oder sie wünschen sich, eine Nacht zu Hause zu schlafen. Wir lindern Atemnot, Angstzustände und Schmerzen. Aber ich würde ziemlich viel in Bewegung setzen, um noch einen letzten Wunsch zu erfüllen.

Mussten Sie schon mal alle Hebel in Bewegung setzten?

Ich war immer wieder Trauzeugin bei schlichten, sehr schönen Hochzeiten hier auf der Station. Und wir hatten eine Patientin, die noch ihren Sohn hat taufen lassen.

Haben Ihre Patienten noch Angst vor dem Tod? Die meisten fürchten nicht den Tod, sondern das Sterben, die Schmerzen, den Todeskampf. Dabei sind neun von zehn unserer Patienten vor dem Tod gar nicht mehr zu Kontakt fähig. Die Endstrecke ist oft ähnlich: Sie werden schwächer, müder, das Interesse an Essen und Trinken geht verloren und die Wachphasen werden kürzer. Dann fallen sie in einen Schlaf-Komazustand und entschlafen.

Entschlafen Menschen friedlicher, wenn Angehörige dabei sind und die Hand halten?

Der klassische Fall ist, dass ein Angehöriger immer beim Patienten ist und beim Sterben unbedingt dabei sein möchte. Wenn er eine halbe Stunde weggeht, um zu duschen oder etwas zu essen, kann es sein, dass der Patient genau in dieser Zeit verstirbt. Wenn das passiert, das ist meine Überzeugung, dann sollte es so sein. Sterbende Menschen können manchmal nur gehen, wenn sie allein sind und niemand sie mehr festhält.

Hilft ein erfülltes Leben oder der Glaube an Gott dabei, friedlich zu entschlafen?

Das kann man nicht pauschal sagen. Ich habe schon Tief-Gläubige gesehen, die bis zum letzten Atemzug um ihr Leben gekämpft haben und andere, die mit einem Lächeln entschlafen sind. Es ist ganz schwierig, da irgendeine Regel zu finden.

Wie sollte man damit umgehen, wenn im Freundeskreis jemand schwer krank ist?

Manche thematisieren das nicht, was den Kranken isoliert. Laden Sie ihn stattdessen ein, darüber zu reden. Sagen Sie „Es tut mir leid. Wie geht’s dir damit?“ oder „Ich habe gehört, dass du eine ernsthafte Diagnose hast.“

Was für eine Vorsorge sollte man jetzt treffen, um auf einen Unfall oder Krankheit vorbereitet zu sein?

Eine Patientenverfügung macht mehr Sinn, wenn Sie eine Diagnose haben, da Sie sich dann auf viel konkretere Situationen beziehen können. Als gesunder Mensch ist es schwerer, Leiden einzuschätzen. Lehnt man beispielsweise als Gesunder eine Reanimation grundsätzlich ab, kann es sein, dass sich ein Arzt bei der ersten Hilfe nach einem Autounfall oder Allergieschock nicht daran hält.

Was sollte man dann tun?

Eine Vorsorgevollmacht an einen Menschen erteilen, von dem Sie glauben, dass er in Ihrem Sinne handelt. Das muss nicht notariell sein, sollte aber in regelmäßigen Abständen erneuert werden durch eine Unterschrift mit Datum. Ganz wichtig ist, dass Sie mit dem Bevollmächtigten über Ihre Vorstellungen sprechen. Denn er soll nicht aus seiner, sondern aus Ihrer Sicht entscheiden.

Haben Sie Angst vor dem Sterben?

Ich bin nicht komplett angstfrei. Aber ich habe viele Patienten friedlich, manche sogar mit einem Lächeln auf den Lippen sterben sehen. Das hoffe ich für mich auch.

Hat sich Ihr Verhältnis zum Tod durch Ihre Arbeit verändert?

Nicht mein Verhältnis zum Tod, sondern mein Verhältnis zum Leben. Es ist bitter, wenn ich Patienten erlebe, die gerade pensioniert wurden, jetzt leben wollten und dann eine ernsthafte Diagnose bekommen. Deshalb versuche ich Dinge, die mir wichtig sind, gleich umzusetzen. Ich frage mich: Was will ich? Wo vertue ich meine Energie? Mein Leben ist durch die Arbeit bewusster geworden und ich Freude mich zum Beispiel, Farben, Licht und Gerüche intensiv wahrzunehmen.

 

 

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