Palliativ-Angebot "Letzte Hilfe" in München: Ein Kurs fürs Leben

München - AZ-Interview mit Andrea Gerstner: Die 47-jährige Kinder- und Palliativkrankenschwester arbeitete an mehreren Kliniken in München und ist jetzt im Hospiz der Barmherzigen Brüder beschäftigt. Vor einigen Jahren hat sie die Trauerbegleitung "Wegbegleitung München" gegründet. Seit drei Jahren ist sie auch ausgebildete Kursleiterin für "Letzte Hilfe."
Eine oft verdrängte Frage: Wie gut bin ich darauf vorbereitet, wenn in meiner Umgebung jemand schwerstkrank wird oder auf den Tod zugeht? Der dänische Arzt, Palliativ- und Notfallmediziner und Forscher Georg Bollig hat das Konzept der "Letzte-Hilfe"-Kurse entwickelt, das sich international bewährt hat.
AZ: Frau Gerstner, "Letzte Hilfe" könnte auch der Titel einer schlechten Komödie sein. Aber es geht ja um Existenzielles.
ANDREA GERSTNER: Ich frage bei den Kursen am Anfang: "Wer hat schon mal einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht?" Fast alle! Und da ist dann nach Jahrzehnten als Grundprinzip vielleicht hängengeblieben: Ruhe bewahren, dableiben, Hilfe holen!
Andrea Gerstner: "Niemand ist unsterblich, also wird jeder mit dem Thema in Berührung kommen"
Wenn man das wahrnimmt, hat man ja schon viel geschafft.
Ja, und es gilt genauso bei der "Letzten Hilfe". Die Ironie aber ist: Den Erste-Hilfe-Kurs haben wir alle gemacht, auch weil wir es für den Führerschein brauchten. Aber wir hoffen, dass wir das Wissen nie anwenden müssen. Bei der "Letzten Hilfe" gilt aber: Die Situation wird kommen! Weil immer jemand aus meiner Nähe schwer krank werden kann oder in den Sterbeprozess kommt. Niemand ist unsterblich, also wird jeder mit dem Thema in Berührung kommen. Das beginnt schon damit, dass sich die meisten wegducken, wenn sie hören, ein Kollege oder der Nachbar ist schwer krank. Oder Vater oder Mutter von einem Klassenkameraden meiner Kinder.
Was hat das mit "Letzter Hilfe" zu tun?
Es geht ja nicht darum, gleich zur Chemotherapie mitzugehen oder sich ans Krankenbett auf der Palliativstation zu setzen. Der Kurs regt aber an, nachzufragen, Unterstützung anzubieten, ohne sich zu überfordern - was zum Essen vorbeibringen oder den Rasen mähen. Und, um beim Schulbeispiel zu bleiben: Man kann ja einfach die Klassenkameradin oder den Schulkameraden der Kinder mit zu sich nach Hause nehmen, damit der oder die mal einen Nachmittag lang eine ganz normale, unbelastete Welt erleben, wenn zu Hause jemand schwer krank ist oder im Sterben liegt.
Wäre das nicht selbstverständlich?
Ja, aber Tod und Krankheit sind Tabuthemen, vor denen wir die Angst nehmen wollen. Nach dem Kurs wird einen das auch nicht mehr so runterziehen. Man wird freier darüber reden und wird auch leichter betroffene Menschen ansprechen können, anstatt die Straßenseite zu wechseln.
Andrea Gerstner: "Palliativ ist eine Station, wo man auch die Familie begleitet"
Schwer wird es aber, wenn es im engsten Umkreis passiert.
Ja, aber darauf kann man sich eben vorbereiten. Die wenigsten wissen zum Beispiel, was eine Palliativstation eigentlich ist, und denken: Das ist die letzte Station, da stirbt man. Aber das stimmt so nicht, das wäre ein Hospiz. Palliativ ist eine Station, auf der man nicht mehr versucht zu heilen, sondern Beschwerden zu lindern und wo man auch die Familie begleitet. Und von dort kann es auch wieder nach Hause gehen. Und der Hausarzt wird eingebunden. Wenn man weiß, was wo passiert, was man tun kann, wer hilft, wird alles leichter. Übrigens haben da oft auch Ärzte Unsicherheiten.
Und was sind die Inhalte?
In viereinhalb Stunden versuche ich mit meiner Kollegin Annemarie Schmid zu vermitteln: Was kann ich machen, was muss ich machen? Wo bekomme ich professionelle Hilfe? Was kann ich im Vorhinein planen? Aber auch: Wie läuft ein Sterbeprozess ab?
Wenn Körper, Geist und Seele am Lebensende sind, ist diese Erkenntnis für die Umgebung ein Schreckensmoment.
Aber es ist der Moment, in dem ich lernen muss, nicht mehr dagegen zu arbeiten, sondern das Sterben zu begleiten. Man kann Abschied nehmen, nochmal Dinge ansprechen, durchdenken, erinnern, trauern. Auch wenn der Sterbende schon wegdämmert, kommt das bei ihm an.
Andrea Gerstner: "Es ist ein Prozess, der weniger unheimlich ist, wenn man ihn kennt"
Man könnte auch einfach Homeoffice im Zimmer machen und nur da sein.
Absolut. Aber das alles kann ich nur, wenn ich aus der Schockstarre komme. Deshalb erklären wir auch, was beim Sterben passiert, so dass man - bei allem Stress - gefasster damit umgehen kann, wenn zum Beispiel "Rasselatmung" einsetzt, weil der Sterbende die Spucke nicht mehr abschluckt und nicht mehr husten kann. Das ist selbst für die Pflege schwer auszuhalten, aber man schaut, ob der Mensch leidet, dann greift man ein. Wenn der Körper aber entspannt ist, lässt man es als normal laufen. Dazu muss man aber eben Bescheid wissen. Das Gleiche gilt für die Unruhe vor dem Tod oder die Verwirrung, die einsetzen kann. Es ist ein Prozess, der weniger unheimlich ist, wenn man ihn kennt. Sterben ist natürlich nicht immer schön. Aber die "Letzte Hilfe" ist eine Art Notfallkoffer fürs Leben und verschafft uns in der ohnehin schweren Situation Sicherheit und Erleichterung.
Und wenn einem doch alles zu viel wird?
Das ist ein wichtiger Punkt: Man muss Menschen auch das schlechte Gewissen nehmen, wenn er sich überfordert fühlt und sich zeitweise rausnimmt. Das ist völlig legitim. Niemandem ist mit einem überlasteten Menschen geholfen. Und auch da zeigen wir Möglichkeiten, Unterstützung von außen zu bekommen, damit man selbst gut weiterleben und Kraft tanken kann.
Was ist Ihr Ziel?
Dass jeder so einen Kurs macht, dass er verpflichtend wird wie der Erste-Hilfe-Kurs. Wir bieten das für Firmen an. Oder an Schulen, wo das natürlich spielerischer ist. Oft sind Kinder da auch natürlicher.
Andrea Gerstner: "Trauer kann man nicht abarbeiten wie eine Steuererklärung"
Und wenn die Enkelin sagt, "Oma, wenn Du dann tot bist, bekomme ich dann dein Handy?", ist das völlig okay, oder?
Und viel besser, als wenn man Kindern oder Enkeln erzählt, der Papa oder die Oma sind in Urlaub gefahren, aber in Wirklichkeit sind sie tot. Das ist gefährlich, weil sie dann die Tabuisierung spüren. Und wenn die unvermeidliche Wahrheit aufkommt, ist Vertrauen zerstört und es entstehen oft auch Schuldgefühle. Kinder dürfen alles fragen zu Leben und Tod, weil sie selber wissen, was sie wissen wollen und verkraften. Man beantwortet diese Fragen - nicht mehr und nicht weniger. Mit Kindern kann man Rituale erfinden, ein totes Vögelchen bestatten, Kerzen anzünden. Und Kinder können danach auch wieder lachen und spielen. Trauer kann man nicht abarbeiten wie eine Steuererklärung, sondern sie ist ein Prozess, in dem man lernen muss, damit umzugehen. Und deshalb ist das vierte Modul im Kurs auch "Trauer".
Ist das, was Sie im Hospiz täglich machen, nicht eine besonders belastende Arbeit?
Ich würde eher sagen: fordernd. Aber ich empfinde es auch als eine Art Ehre, einen Menschen auf dem Sterbeweg begleiten zu dürfen und Angehörigen eine Stütze zu sein. Ich bin - so merkwürdig es klingt - dankbar für meine Arbeit, der ich auch viel Sinn abgewinnen kann.
Die nächsten "Letzte-Hilfe"-Kurse: Samstag, 26. November, im Nachbarschaftstreff Theresia (Pfeuferstraße 3, zwischen Harras, Heimeranplatz und Poccistraße). Vormittags 10 Uhr bis 14.30 Uhr und nachmittags 16 Uhr bis 20.30 Uhr. Anmeldung über www.wegbegleitung-muenchen.com, Telefon: 0170 -4466026 . Die Kurse sind durch die Unterstützung der Energie-Betriebskrankenkasse kostenfrei.