Olympia-Geschichten: Mein Nachbar, der Terrorist

München - Das Leben von Shlomo Levy erfährt eine Wendung, als er noch Student ist, in Tübingen. In der Zeitung liest er eine Annonce des Deutschen Olympischen Komitees, das auf der Suche nach Dolmetschern ist. Der Israeli spricht deutsch und französisch, bewirbt sich, wird genommen und bekommt einen Vertrag über zwei Monate.

Über diese kurze Zeit wird er auch ein halbes Jahrhundert später noch sprechen, immer wieder die gleiche Geschichte.
Es ist die Geschichte des Olympia-Attentats.
Aus nächster Nähe erlebt Shlomo Levy das dramatische Geschehen
Am 5. September 1972 überfallen acht palästinensische Terroristen das Quartier der israelischen Sportler und nehmen elf Geiseln. Im olympischen Dorf und während des späteren Feuergefechts in Fürstenfeldbruck kommen alle Geiseln, ein deutscher Polizeibeamter und fünf Attentäter ums Leben.
Aus nächster Nähe erlebt Shlomo Levy das dramatische Geschehen. Eigentlich war er als Dolmetscher für die Mannschaften von Kamerun und Israel tätig, doch an jenem 5. September hält er mit seiner Kamera von gegenüber die Szenen vor dem Haus in der Conollystraße 31 fest.
Fotos, die um die Welt gehen.
Levy bekommt eine Wohnung in München gestellt, zieht zehn Tage vor Beginn der Spiele dort ein. Seine Aufgabe: die Mannschaft am Flughafen empfangen und dann zur Akkreditierung begleiten.
Er selbst bekommt ein C: unbeschränkter Zugang. Das nutzt er gleich bei der Eröffnungsfeier aus: Anstatt mit der Mannschaft zwei Stunden lang im Stadion herumzustehen, setzt er sich auf die Haupttribüne, zu den VIPs. Zwei Reihen hinter ihm: Fürst Rainier von Monaco. Shlomo Levy hat gleich Spaß an seinem Job.
Israelische Medien rufen den noch unwissenden Levy an
Da die israelische Mannschaft nicht alle sechs Wohnungen im olympischen Dorf in Anspruch nimmt, bekommt auch Levy eine Unterkunft beim Team. Am Vorabend des 5. September ist er mit dem Team auf Einladung der jüdischen Gemeinde München im Theater, im Musical "Anatevka". Spät nachts kommen die Israelis zurück ins olympische Dorf, "um halb zwei war ich im Bett", erzählt Levy. Am Morgen reißt ihn um sieben Uhr das klingelnde Telefon aus dem Schlaf.
"Ich dachte mir noch: 'Komisch. Wer ruft denn um diese Zeit an?' Es war eine Frau vom israelischen Radio: 'Können Sie uns erzählen, was bei Ihnen passiert ist?' Konnte ich nicht. Ich wusste gar nichts!" Levy verspricht, mal beim Chef nachzufragen. Drei, vier Meter sind es bis zur Wohnung des Delegationsleiters, doch der reagiert nicht auf die Klingel. Levy denkt 'der schläft aber tief', geht zurück in seine Wohnung, sagt zur Radio-Frau "Tut mir leid, hier ist alles ruhig" – und legt sich wieder ins Bett.
Zehn Minuten später der nächste Anruf: die Tageszeitung "Ma'ariv" aus Tel Aviv. Die selbe Frage: Was ist los? Levy geht noch mal raus – und sieht diesmal "einen Mann, schön angezogen, weißer Anzug, der ganz gemütlich mit einem Polizisten spricht". An Terror denkt er bei diesem Anblick ganz und gar nicht. Der schicke Mann sieht, dass Levy ihn sieht, reagiert aber nicht.
Mittlerweile hat Levy den Arzt des israelischen Teams entdeckt, der ihm durchs Fenster Zeichen gibt abzuhauen. Zurück in seiner Wohnung ruft er jetzt doch lieber mal die Polizei an – und der Beamte bestätigt, dass es ein Attentat gab.

Levy, der im Sechs-Tage-Krieg 1967 für die israelische Armee gekämpft hat, mutiert nun zum Journalisten. Er will die Gesichter der Terroristen per Kamera dokumentieren – vom gegenüberliegenden Haus, in dem die DDR-Mannschaft wohnt.
Dort wird er abgewiesen, weil die Anwesenheit eines Israelis die DDR-Sportler gefährden könne, hieß es. Levy insistiert: "Ich war schon drei Mal draußen, ich gehe nirgends mehr hin, ich bleibe hier!"
Soldat organisiert Levy eine Kamera
Ein Bundeswehrsoldat springt ihm bei, organisiert eine Kamera samt Teleobjektiv und Schwarz-Weiß-Filmen und bietet Asyl in einem Raum der Westdeutschen im vierten Stock, mit Blick auf das Quartier der Geiseln.
Vom Balkon aus fotografiert er bis in die Nacht hinein: den damaligen Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel, Walther Tröger, Innenminister Hans-Dietrich Genscher, Abgesandte der Arabischen Liga – und die bewaffneten Attentäter.
"Die haben mit Genscher verhandelt", erinnert sich der Augenzeuge, "so gegen ein Uhr mittags sollte den Sportlern was zu essen gebracht werden. Der Chef-Terrorist sagt ganz ruhig und freundlich 'Okay, kein Problem.' Dann kamen zwei Chefköche – das waren aber gar keine Köche, sondern Polizisten, die rauskriegen sollten, um wie viele Terroristen es sich handelt." Das Bild vom scheinbar tiefenentspannten Terroristenanführer sei "das beste Foto, das ich je gemacht habe", sagt Levy, "unfassbar wie ruhig der ist!" Stunden später ist der Palästinenser tot.
Am frühen Morgen des 6. September wird die grausame Wahrheit bekannt gegeben: Alle israelischen Geiseln sowie fünf der Entführer und ein Polizist sind tot. Die dilettantisch geplante Befreiungsoperation auf dem Flughafen in Fürstenfeldbruck endet in einer Katastrophe.
Die Spiele gehen trotzdem weiter. Shlomo Levy findet die Entscheidung richtig: "Das Leben muss weitergehen. Was sollen wir tun? Alles komplett stoppen? Genau das wollen doch die Terroristen."