Olympia 1972: Treffen der Taschendiebe?

Vom 26. August bis zum 11.September 1972 wurden die Spiele der XX.Olympiade in München, Kiel (Segeln) und Augsburg (Wildwasser) ausgetragen. Welchen Herausforderungen sich die Landeshauptstadt stellen musste und was dann in der City los war, lesen Sie in dieser AZ-Serie. Teil 5
Die Münchner Polizei rechnet während des Großereignisses vor allem mit einem Anstieg der Kleinkriminalität, mit Drogendelikten, „Hippies und Gammlern“.
München - Ein Gespenst geht um in Europa: der Terrorismus. Fanatisierte Nachzügler der 68er-Revolte und andere Desperados (wie sie Hans-Jochen Vogel nennt) überfallen Banken, zünden Sprengkörper, werfen Brandsätze in Kaufhäuser. Auch im vorolympischen München verbreitet sich diese Gefahr.
Im Februar 1970 scheitert in Riem die erste Flugzeugentführung (drei Palästinenser wollen eine israelische Maschine nach Libyen bringen). Im August 1971 endet in der Prinzregentenstraße der erste Banküberfall mit Geiselnahme im Kugelhagel. Im ganzen Bundesgebiet treibt die von dem Münchner Andreas Baader geführte Bande ihr Unwesen. Im Juni 1972 werden fünf ihrer Schlüsselfiguren gefasst. Doch ihre Kumpane schwören: „Der Kampf geht weiter.“ In dieser Lage hatte München ein Problem: Wie garantiert man Sicherheit – ohne Anklang an militärisches Gehabe?
10.600 POLIZISTEN
Nicht weniger als 10.600 Polizeibeamte von Stadt, Freistaat und Bund sollen in München für Sicherheit sorgen, gibt Münchens Polizeipräsident Manfred Schreiber im April bekannt. Die zentrale Aufgabe beschreibt er so: „Aus fertigen Zeit- und Organisationsplänen und überwiegend abgeschlossenen baulichen Gegebenheiten ein Optimum an Sicherheit bei einem Minimum an Einschränkungen herauszuholen.“
Sieben Arbeitsgruppen sind seit langem unter Leitung des Sicherheitsbeauftragten Heinrich Martin am Werk, um mit bekannter deutscher Gründlichkeit Generalstabspläne erster Güte auszutüfteln. Der Sachbearbeiter für Verkehrsregelung erhält seine Lageberichte über 31 Fernsehkameras, Funkmeldungen der Außenbeamten und Durchsagen aus dem Polizeihubschrauber.
Da nicht nur Verkehrsrekorde bewältigt werden müssen, sondern – so Oberkriminaldirektor Hermann Häring – „auch zahlreiche in- und ausländische Rechtsbrecher alle Schattierungen eine einmalige Chance für ihre dunklen Absichten“ wittern werden, soll die Münchner Kriminalpolizei um 640 auswärtige Kräfte verstärkt werden. Oberpolizeidirektor Othmar Keller von der Landpolizei erwartet einen Kriminalitätszuwachs von 100 Prozent, was Kollege Häring allerdings „pessimistisch“ nennt.
Der Münchner Kriminaldirektor sieht ungewohnte Probleme dadurch heraufziehen, dass Emigrantenorganisationen sich bemerkbar zu machen versuchen, dass Angehörige der Delegationen aus Ostblockländern um Asyl nachsuchen und dass alle möglichen Personen eine willkommene Gelegenheit sehen könnten, vor der Weltöffentlichkeit auf ihre Ideen, Forderungen und Ziele aufmerksam zu machen. Immerhin liege die Bundesrepublik in einem besonderen Spannungsfeld.
„Es mehren sich die Zeichen, dass München zu einem Treffpunkt internationaler Gammler und Hippies wird“, merkt Häring in einem internen Papier an. Auch sieht er zahlreiche Vermisste und Rauschgifthändler voraus.
Für den ersten Zugriff will die Kripo auf dem Oberwiesenfeld eine „Olympiawache K“ einrichten. Auf dem Sportgelände selbst soll außer den Beamten in Zivil keine Polizei eingesetzt werden. Den Ordnungsdienst versehen hier vielmehr 1.050 Polizeisportler und 400 Objektbewacher, für die eigene lavendelblaue Uniformen geschneidert wurden.
Vor allem rechnet Häring mit der Einwanderung „speziell geschulter, aufeinander abgestimmter Taschendiebe“. Schon wird in einem Kaufhaus eine Vertreterin dieser Zunft geschnappt, die bis aus Kolumbien angereist war.
15.000 SOLDATEN
Zehn Musikkorps mit rund 500 Mann sollen der Jugend der Welt aufspielen, sie üben seit langem. Vor allem müssen die Nationalhymnen sitzen, denn in dem Punkt sind mancher Länder Herren empfindlich. Mit der musikalischen Begleitung ist die olympische Schützenhilfe der Streitkräfte aber längst nicht erschöpft. Insgesamt sollen 15.000 Soldaten, also eine komplette Division, abkommandiert werden (in Mexiko waren 40.000 Mann aufmarschiert). Sie sollen auf dem einstigen Exerziergelände Hilfsdienste leisten, vom Brückenbau bis zum Transport von Sportgerät. Alle Soldaten werden in Uniformen – den neuen, besser geschnittenen – oder uniformähnlichen Arbeitsanzügen antreten. Ihre Autos werden täglich gewaschen, lange Haare und Bärte müssen gestutzt werden.
STEINSCHLEUDERN
Besonders besorgt ist die Polizei übe die starke „Aufrüstung der Unterwelt“. 1965 waren in München 183 Fälle von Schusswaffengebrauch gemeldet worden, 1971 sind es schon 532 Fälle. Im April 1972 beschlagnahmen Sonderfahnder ein ganzes Arsenal: Sturmgewehre, Maschinengewehre, Maschinenpistolen.
Speziell für den Polizeigebrauch werden jetzt 9-mm-Pistolen entwickelt, wie sie die Unterwelt neuerdings bevorzugt. Sie können zehn Schuss mit erheblicher Wirkkraft abgeben. „Die Polizei wird zweifellos in Zukunft mehr schießen müssen, auch wenn sie es nicht will, und sie muss vor allem schneller schießen als bisher“, sagt Erich Kiesl (CSU), Staatssekretär im Innenministerium (und später OB in München).
Auch Polizeipräsident Manfred Schreiber (SPD) hält seine Truppe für „unterbewaffnet“. Der gebräuchlichen Dienstpistole fehle die „mannstoppende Wirkung“. Seit Jahresbeginn lässt Schreiber alle Vollzugsbeamte intensiv in neuen „Schießkinos“ drillen, ein Prozent der Beamten wird als Präzisionsschützen ausgebildet. Dafür steht ein neues Zielfernrohr mit sechsfacher Vergrößerung und Nachtsicht zur Verfügung.
Das bayerische Innenministerium arbeitet auch an der Entwicklung völlig neuartiger Polizeiwaffen. Nachdem Nervenkampfstoffe, „chemische Knüppel“, Injektionsprojektile, Laserpistolen und Raketengewehre geprüft und wegen erhöhter Risiken als nicht verwendbar erkannt wurden, wendet man sich anderen Zukunftswaffen zu. „Größere Bedeutung bei bestimmten Aufgaben“ misst man einer neuen amerikanischen „Stun Gun“ zu, bei der aus einem schlagstockähnlichen Schießgerät ein Leinenbeutel mit Weichbleischrot geschleudert wird.
Der Angreifer wird von dieser modernen Steinschleuder wie von einem starken Boxhieb getroffen, ohne zu bluten. Viel halten die Waffentechniker auch von Plastikkugeln und Gummigeschossen, wie sie bereits in Nordirland gegen Aufständische und in den USA gegen Flugzeugentführer angewandt wurden. Schließlich befasst man sich im Landeskriminalamt, auf dessen Parkplatz ein noch ungeklärter Sprengstoffanschlag verübt wurde, auch mit einer aus der Schweiz kommenden Sprayflasche, mit der ein Angreifer „schnell kampfunfähig gespritzt“ werden kann, sowie mit einem Elektroschock-Geschoss, das einen Menschen ebenfalls kurzfristig „außer Kraft“ setzen kann.
In einer umfassenden Bilanz über die Kriminalität bei den Olympischen Spielen stellt das Polizeipräsidium am 14. September fest, „dass der vielfach erwartete Anstieg von Straftaten ausgeblieben ist“ (lediglich die Taschendiebstähle stiegen um 1.500 Prozent). Die blutigen Verbrechen in der zweiten Olympia-Hälfte (siehe unten) hat die Münchner Polizei bei dieser Bilanz offensichtlich nicht als „Straftaten“ berücksichtigt.