Olympia 1972: Das neue Oberwiesenfeld

Vom 26. August bis zum 11.September 1972 wurden die Spiele der XX.Olympiade in München, Kiel (Segeln) und Augsburg (Wildwasser) ausgetragen. Welchen Herausforderungen sich die Landeshauptstadt stellen musste und was dann in der City los war, lesen Sie in dieser AZ-Serie. Teil 3
Umjubelt und umstritten: Wo einst Munition und Schutt gelagert wurden, entsteht der "Olympiapark".
Mit einem Damenstrumpf demonstriert der Stuttgarter Architekt Günter Benisch seine Vorstellung von den Münchner Wettkampfstätten: leichte, luftige Stadien, alle unter einem zeltartigen, transparenten Dach, das mit der Voralpenlandschaft harmonisiert. Darum herum viel Grün. Der Platz für einen derartigen „Olympiapark“ steht von vornherein fest: das Oberwiesenfeld, einst Munitionsdepot, Übungsgelände der bayerischen Artillerie, Startplatz für Ballons und Luftschiffe, erster Münchner Verkehrsflughafen und nach dem Krieg 55Meter hoch gewachsener Schuttabladeplatz.
MISERABEL BIS MAXIMAL Mitte Mai 1972 hobeln und schrauben, schweißen und schwitzen noch 5000 Handwerker – und fluchen in über 20 Sprachen. Am 26. Mai wird das Stadion mit dem Fußball-Länderspiel BRD–UdSSR eingeweiht. Bis Juli soll das 1972Millionen Mark teure „Gesamtkunstwerk“ (OK-Chef Willi Daume) fertig sein. Vier Sportstätten in München sind bereits dem OK übergeben, sie werden sofort umjubelt und kritisiert.
Als erstes die Basketballhalle: Aus Stahlblechen gefertigt, hängt ihr „Kegelschalenhängdach“ am Hallenrand und wird in der Mitte von einer 220 Tonnen schweren Basisplatte nach unten gezogen. „Die größte Sportbewegung der Welt bekommt die schlechteste Halle in der olympischen Geschichte“, bullert der Basketballbund. Vor allem der Kontakt zum Publikum sei „miserabel“. Auch hätte man gern 8000 Sitze gesehen, nicht nur 6500. Die Radler kommen nicht viel besser zurecht.
Zwar wurde für 26 Millionen das „modernste und schnellste Radstadion“ der Welt aufgerichtet. Von außen ist der fertige Bau aus dunklem, afrikanischen Holz mit dem lichtdurchlässigen Dach und den orangenfarbenen Wänden schön anzusehen. Doch innen versteckt sich die mit 285,714 Metern kürzeste Piste der Welt. Wenn sie der Radler eineinhalb Mal umrundet, hat er einen Kilometer minus einen Millimeter zurückgelegt, wobei er der starken Schräge wegen Geschwindigkeiten bis zu 110 Stundenkilometern erreicht.
Das passt dem Bayerischen Radsportverband gar nicht, er will das Stadion nach den Spielen nicht übernehmen. Schon muss die Olympiapark GmbH überlegen, wie sie den Bau „danach“ nutzt und die Kosten von jährlich 300.000 Mark deckt. Rund 25.000 Zuschauer finden längs des Beckens der Ruder- und Regattastrecke in Feldmoching Platz. Außerdem stehen drei riesige Hallen für 400 Boote zur Verfügung. „Zu gigantisch, fast unmenschlich, zu wenig Kontakt zum Publikum“, urteilt Olympia-Sieger Moritz von Groddeck. In sportlicher Hinsicht jedoch empfinden die Ruderer die 2230 Meter lange Anlage als „maximal“ und als „beste Strecke der Welt“. Das Wasser soll so sauber sein, dass man es trinken könnte. 5000 Regenbogenforellen vertilgen kleines Wassergetier und Algen.
MÜNCHENS GRÖSSTE HALLE Und das Stadion? Es ist nicht nur im Zeichen der „kurzen Wege“, sondern auch im Rahmen der Gesamtkonzeption untrennbar mit den beiden Nachbarbauten verbunden – durch das schon weltberühmte Dach und das zentrale Plateau. 200 Meter trennen das Großstadion von der Sporthalle, von dort sind es acht Meter bis zum Schwimmstadion. In Münchens nunmehr größter Halle sollen später Sechstagerennen, Reitturniere, Hallenwettbewerbe, Ausstellungen, Unterhaltungsprogramme, Konzerte und Parteitage (die FDP hat schon gebucht) stattfinden.
Der 64-Millionen-Bau wird deshalb gleich als Mehrzweckhalle mit allen erdenklichen Einrichtungen ausgestattet. Ihre 7000 olympischen Sitze und die 4000 Stehplätze können „danach“ auf 14000 Plätze aufgestockt werden. Die Schwimmhalle hat fünf Becken und fasst 9000 Zuschauer. 38 Scheinwerfer, Fenster für die Fotografen und Lautsprecher sind sogar unter Wasser installiert. Nach den Spielen kann die Wassertiefe durch Hubböden auf 35 Zentimeter gesenkt werden, so dass auch Kleinkinder in den olympischen Gewässern planschen können.
Dann soll eine Glaswand (für deren Gestaltung man Popkünstler Andy Warhol vergeblich zu gewinnen versucht hatte) das Stadion abschließen, so dass man laut Benisch „beim Schwimmen das Panorama des Olympiaberges und später die Liegewiesen erleben kann“.
NATÜRLICHE LANDSCHAFTEN Wie das gewaltige Zeltdach als Kontrapunkt zur Bergwelt gedacht ist, so sollen der „etwas ruppige Charakter der Bepflanzung des Olympiaparks der Voralpenlandschaft, der Kiesstrand des künstlichen Sees den Ufern bayerischer Flüsse gleichen“, so Landschaftsgestalter Günther Grzimek. Er verwirklicht sein Konzept mit der Anpflanzung von 12000 Büschen und Bäumen – manche wurden aus Münchner Alleen ausgegraben, andere stammen aus Abu Dhabi oder der Taiga – sowie über 85 Hektar Blumenwiese und trittsicherem Rasen.
Der Name „Olympiapark“ trügt allerdings. Grzimek will das einstige Schotterfeld in eine „natürliche Landschaft“ verwandeln, nicht in eine Parklandschaft. Nirgends gibt es ein Schild „Betreten verboten“. Nur 4,7 Prozent der Erholungsfläche von 1,2 Millionen Quadratmetern werden eingezäunt, damit eine Eintrittskartenkontrolle möglich ist und keinem Lustwandler ein Diskus um die Ohren fliegt. Die gärtnerische Gestaltung verschlingt 20 Millionen. Mehr als eine halbe Million kostet der Unterhalt pro Jahr. Zwölf Gärtner müssen auch nach den Spielen die 270 600 Quadratmeter Grünflächen tagein tagaus betreuen.
CHAOS IM DORF Ab Juli sollen im Olympischen Dorf die ersten Sportler für die Testveranstaltungen und ab 1. August die aktiven Olympiateilnehmer einziehen. Doch die Wohnungen scheinen nicht rechtzeitig fertig zu werden. Bis Juni kann nicht einmal der Feinputz in den Häusern aufgetragen werden. Zwei Monate vor Eröffnung der Spiele sieht es noch so chaotisch aus, dass Film-Diva Gina Lollobrigida bei einem Besuch des Olympischen Dorfes ausruft: „Wie nach einem Bombenangriff!“
Schon vor Eröffnung des Dorfes sind einige deutsche Athleten wieder ausgezogen. Aber die meisten der 12000 Sportler und Betreuer aus 123 Ländern, die nach und nach in den Hochhäusern des Männerdorfes und in der „marokkanischen Kasba“ der Frauen unterkommen, scheinen der Meinung des Sowjetsprinters Borsow zuzuneigen: „Eine Stadt für das Jahr 2000“.
DIE MILLIARDEN-BILANZ Ehe noch die Olympische Flamme aus der TÜV-geprüften Feuerschale lodert, wird eine Bilanz der Vorbereitungen gezogen: Mit 250 Millionen glaubten die Macher auszukommen. Inzwischen ist die offizielle Berechnung auf die symbolisch scheinende Ziffer 1972 Millionen geklettert. Was das OK tröstet: Rund 1,3 Milliarden Mark stammen nicht aus dem Steuersäckel, sondern wurden durch die Olympialotterie, Lizenzeinnahmen und die Vergabe der Fernsehrechte gedeckt.
670 Millionen Mark finanzierten der Bund zu 50 Prozent, der Freistaat Bayern und die Stadt München zu je 25 Prozent. Für das viele Geld wurde in in München so viel gebaut wie nie zuvor. Für rund 600 Millionen bewegte die Olympiabaugesellschaft seit 1969 rund 3,5Millionen Kubikmeter Erde, verbaute 220000 Kubikmeter Beton und die vierfache Eisenmenge des Eiffelturms.