Wiesn-Attentat 1980 in München: Ein Überlebender klagt an

Der Großteil der Familie des Münchners starb beim oder in Folge des Wiesn-Attentats. Bis heute fühlt sich Robert Höckmayr von den Behörden im Stich gelassen.
von  Tobias Lill
Es ist ein dunkles Kapitel des Oktoberfests: Das Wiesn-Attentat von 1980 (Symbolbild).
Es ist ein dunkles Kapitel des Oktoberfests: Das Wiesn-Attentat von 1980 (Symbolbild). © picture alliance/dpa

München - Eigentlich wollte Ignaz Platzer am 26. September 1980 gar nicht aufs Oktoberfest. Zu viel zu tun. Doch der Münchner Schrotthändler hatte seinen fünf Kindern den Wiesn-Ausflug nun mal versprochen – und die Jungen und Mädchen quengelten, bis er nachgab.

"Wir hatten wochenlang gespart. Das Oktoberfest war schon damals sehr teuer", sagt Platzers Sohn Robert. Das größte Volksfest der Welt kannte er nur aus dem Fernsehen.

Wiesn-Attentat 1980: Der erste Oktoberfest-Besuch einer Familie endet tragisch

Die Familie lebte in einfachen Verhältnissen im Hasenbergl. Robert war damals zwölf Jahre alt, seine Geschwister teils noch jünger. An diesem Tag gönnten sie sich einmal was: Sie schlenderten über die Festwiese. Die Kinder fuhren Geisterbahn, Kettenkarussell und Autoscooter – und am Ende wollten Robert und seine vier Geschwister noch Zuckerwatte und Heliumballons. Die sollten beim ersten Wiesnbesuch des damals Zwölfjährigen nicht fehlen.

Robert und die anderen waren schon auf dem Heimweg, als ein Blitz alles veränderte: Um 22.19 Uhr detonierte im Papierkorb am Haupteingang des Oktoberfests ein Sprengkörper mit 1,39 Kilogramm TNT sowie Schrauben und Nägeln. Die vom Neonazi Gundolf Köhler platzierte Bombe tötete zwölf Besucher sowie den Terroristen selbst, mehr als 200 Menschen wurden verletzt. Das Wiesn-Attentat vom 26. September 1980 gilt als der blutigste rechtsterroristische Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik.

26. Oktober 1980: Drei mit einem Tuch bedeckte Todesopfer am Eingang der Festwiese.
26. Oktober 1980: Drei mit einem Tuch bedeckte Todesopfer am Eingang der Festwiese. © picture alliance / dpa

Robert Höckmayr verlor fast seine ganze Familie durch das Oktoberfest-Attentat

Was der kleine Robert Platzer damals erlebte, fraß sich in sein Gedächtnis. 1990 nahm der heute 55-Jährige den Namen seiner Frau an und heißt seitdem Höckmayr, doch seine Vergangenheit konnte er nicht ablegen. Die Stichflamme verbrannte an jenem Abend Teile seines Körpers schwer, unzählige Bombensplitter trafen ihn. Der Junge konnte nur noch krabbeln und suchte seine Familie. Die kleine Schwester Ilona starb vor seinen Augen. "Es tut so weh", sagte sie noch. Auch der sechsjährige Bruder überlebte nicht.

Der Bub habe überhaupt nicht mehr reagiert. "Mein Bruder hatte ein großes Loch in der Stirn", erinnert sich Höckmayr. Er habe gedacht: "Die beiden schlafen". Der Münchner ist bis heute schwer traumatisiert. Letztlich habe er "fast meine ganze Familie durch das Attentat verloren". Der damals überlebende Bruder und die Schwester töteten sich später selbst, sie konnten, wie Höckmayr sagt, "das Erlebte nicht verkraften". Seine Mutter wurde von Metallgeschossen durchschlagen, die mehrere Organe massiv beschädigten. Der später in ihr wuchernde Krebs fraß sie auf.

Nach 40 Operationen: Immer noch Splitter im Körper

Höckmayr selbst wurde mehr als 40 Mal operiert. Noch immer hat er mehr als zwei Dutzend Splitter im Körper. Er hinkt, hat Probleme mit der Wirbelsäule. "Ich kann derzeit nur sehr kurze Strecken gehen", sagt Höckmayr und deutet auf seinen Rücken. Dort klebt ein riesiges Pflaster: "Gerade wurde ich getaped."

Im Café läuft an diesem Freitag in der ersten Wiesnwoche Partymusik. Eine englischsprechende Touristin im rosa Dirndl kichert laut am Nebentisch. Sie wird sicher noch auf die größte Gaudi-Maschine der Welt gehen. Für Höckmayr sind es derzeit dagegen besonders schlimme Tage. Die Stadt quillt über vor Trachten und Bierflaschen. Vor allem nachts komme alles wieder hoch, sagt Höckmayr. "Das ist dann wie im Film."

Immer zur Wiesn-Zeit ist es für Robert Höckmayr besonders schlimm

Eigentlich träume er, wenn die Wiesnzeit beginnt, immer von seinem Bruder, der wie der Vater Ignatz hieß: "Da ist dann immer dieses riesige Loch im Kopf." Nun geht ihm seine sterbende Schwester nicht mehr aus dem Kopf. "Sie sagt dann immer diesen Satz: Es tut so weh." Ein ums andere Mal wacht er schweißgebadet auf. "Ich will dann nicht mehr einschlafen", sagt der dreifache Familienvater. Im Hintergrund wird es laut, als zwei Touristen mit ihren Getränken anstoßen.

Höckmayr meidet große Menschenmengen. Auch diesmal wird er nur einmal auf die Wiesn gehen – bei der Gedenkveranstaltung für die Opfer wird er an diesem Dienstag sprechen. Dann will er mit einer Rede dazu beitragen, dass der rechtsextreme Terror von damals nicht vergessen wird. Ein kleiner Beitrag, in einer Zeit, in der völkisches Gedankengut wieder salonfähig wird.

Robert Höckmayr kämpft seit Jahren um die Anerkennung seiner seelischen und körperlichen Wunden.
Robert Höckmayr kämpft seit Jahren um die Anerkennung seiner seelischen und körperlichen Wunden. © Tobias Lill

Keine Konzerte, keine U-Bahnfahrten, kein Aufzug

Seine Angststörungen hätten viel kaputt gemacht, sagt Höckmayr. Er gehe nicht auf Konzerte und könne auch nicht mit der U-Bahn oder dem Aufzug fahren. Das Versorgungsamt habe ihn lange abgetan wie "einen Simulanten", sagt Höckmayr. Erst als sich die psychischen Spätfolgen verschlimmert hätten und auch die Schmerzen und Taubheitsgefühle zunahmen, kam ihm das Amt ein bisschen entgegen.

Seit 2009 gilt er als offiziell schwerbehindert. Attestiert wurden zahlreiche gesundheitliche Schäden, darunter etwa eine "chronisch-depressive Entwicklung", Tinnitus, Bandscheibenschäden oder eine "Funktionsbehinderung der Wirbelsäule". "Die lassen dich am langen Arm verhungern", sagt er über das Versorgungsamt, das ihm ein ums andere Mal das Leben schwergemacht habe. Seit 2021 bekommt der 55-Jährige statt bislang knapp 300 Euro Grundrente im Monat ungefähr 100 Euro mehr. Würde er nicht bei der Stadt arbeiten, wäre er womöglich ein Sozialfall.

"Opfer von Terroranschlägen werden zu billig abgespeist"

Eine niedrige fünfstellige Summe habe er 2021 an Entschädigungen von Bund, Freistaat und Stadt bekommen. "Ein gutes Signal nach Jahrzehnten. Aber egal ob München, Hanau oder der Breitscheidplatz in Berlin – prinzipiell werden Opfer von Terroranschlägen viel zu billig abgespeist", sagt er. Menschen mit Beeinträchtigungen würden "oft nur als Kostenfaktor gesehen und wie Dreck behandelt", klagt er. "Selbst eine Rollstuhl-Plakette wird mir trotz Gehbehinderung verweigert."

Höckmayr selbst hat nach eigener Aussage viele Jahre lang fast keine Unterstützung von staatlicher Seite bekommen. Wenn er heute die Begründungen dafür liest, wird er zornig. In einem Bescheid von 1981 stellte die damals zuständige Behörde fest, dass seine Erwerbsfähigkeit in keinem für einen Versorgungsanspruch nennenswerten Umfang gemindert sei. "Bis dahin geleistete Zahlungen an mich wurden daraufhin eingestellt", sagt Höckmayr.

Jahrzehnte lang kämpft der Münchner darum, seine Ansprüche geltend zu machen

Er habe in der Folge viele Jahre lang auch keinerlei Therapien bezahlt bekommen. Eine Ärztin des Versorgungsamts hatte damals nach einer Untersuchung in einem Schreiben konstatiert: "Der 13-jährige Junge wirkt (abgesehen von milieubedingten Einflüssen) unauffällig."

Der Münchner spricht auch heute noch von einem Skandal: "Psychische Traumata wurden nicht den schrecklichen Erlebnissen des Anschlags, sondern meiner Herkunft aus dem Hasenbergl zugeschrieben." Immer wieder versuchte Höckmayr in den späteren Jahrzehnten Ansprüche geltend zu machen – oft vergeblich.

"Was wäre, wenn wir damals früher nach Hause gegangen wären?"

Vieles im Leben des Robert Höckmayr lief nicht so, wie er es sich als Kind erträumt hatte. Er verließ die Schule ohne jeden Abschluss. "Eigentlich wollte ich einmal Feuerwehrmann werden", erinnert er sich.

Doch stattdessen schlug er sich viele Jahre lang mit Hilfsarbeiterjobs durch. Er ging putzen oder arbeitete als Fahrer. Doch eine Frage stellt er sich bis heute: "Was wäre gewesen, wenn wir damals früher nach Hause gegangen wären?"

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