Oktoberfest-Anstich im Schottenhamel: Was die Zuschauer im Fernsehen nicht gesehen haben
München - Markus Söder will natürlich auch hier Gesprächsthemen setzen. Der Ministerpräsident (der zu unrecht von BR-Moderator Michael Sporer für das Anzapfen gelobt wird, das OB Dieter Reiter einmal mehr bravourös mit zwei Schlägen hinter sich gebracht hat) kommt das erste Mal in Lederhose zum Anstich. Ein Franke in oberbayerischer Tracht!
"Das war schon lange fälig", sagt er oben bei der Polit-Party in der Ratsboxe der AZ. Als Franke? "Ich bin bayerischer Ministerpräsident!" Was wohl seine Nürnberger Freunde bei dem Anblick sagen? "Die freuen sich, dass ich bayerischer Ministerpräsident bin." Söder betont, die Hose sei "sehr bequem, angenehm zu tragen" und schaue außerdem "super aus".
"Mei, das sind wir von der Stadt gewohnt"
Ein wirkliches Tuschel-Thema setzt er damit aber nicht. In der Ratsboxe ist das Beinkleid des Ministerpräsidenten den meisten reichlich wurscht. "Keine Frage, steht ihm, soll er machen", sagt Vize-Ministerpräsident Hubert Aiwanger knapp. Der ist bekanntlich von den Freien Wählern, sitzt aber bei den Kollegen der CSU.

So wie die Münchner CSU-Minister Markus Blume und Georg Eisenreich. "Am Katzentisch!", freut man sich feixend bei den Grünen und Roten. Tatsächlich hat die Stadt die CSU mal wieder weit weg vom Geschehen platziert, dort, wo die Dachschräge schon so nahe an die Köpfe kommt, dass es deutlich wärmer ist, dort, wo die Kameras weit weg sind, keiner mehr vom Eingang zum Oberbürgermeister vorbeiläuft.
Ein bewusst unfreundlicher Akt gegenüber der zweitgrößten Rathausfraktion? "Mei, das sind wir von der Stadt gewohnt", sagt Kunstminister Markus Blume der AZ. "Auch das werden wir wieder ändern ab 2026." Dann will die CSU bekanntlich wieder den Oberbürgermeister stellen. Auch wenn man sich an diesem sonnigen Wiesn-Start-Tag nur sehr schwer vorstellen kann, dass die Münchner ihren OB abwählen. Pfiffe für Dieter Reiter? Undenkbar. Es wurde schon wilder gefeiert in der Ratsboxe.
Wie sich die Polit-Party auf der Wiesn verändert hat
Doch die Zeiten, in denen Politiker und andere Gäste der Stadt etliche Freunde problemlos hochlotsten, sind schon seit Jahren vorbei. Bei der Bundesprominenz kommt heuer offenbar dazu: In Zeiten von Krieg und Krisen mag man keine Partybilder aus München in die Welt senden. Kein Gerhard Schröder, kein Jens Spahn, ja, nicht einmal eine Ricarda Lang oder ein Lars Klingbeil lassen sich heuer blicken. Und Christian Lindner? "Ich weiß nicht, ob ihn jemand eingeladen hat", sagt der FDP-Bundestagsabgeordnete Daniel Föst der AZ. "Aber ich weiß, dass er eh nicht gekommen wäre."
Doch Dieter Reiter scheint es richtig gut zu gefallen. Noch um kurz vor zwei, die Kameras sind längst aus, die allermeisten Politiker lange wieder weg, sitzt er ratschend am Tisch in der Ratsboxe. Anschließend geht es offenbar noch aufs Riesenrad, später wird er Fotos in den sozialen Medien zeigen. Zur Sicherheitslage sagt Reiter der AZ: "Ich mache mir keine Sorgen, dass auf der Wiesn ein Anschlag passieren könnte. Ich weiß, dass wir alles getan haben." Reiter spricht vom "sichersten Volksfest der Welt" – genau so drückt es später auch Wirt Christian Schottenhamel aus. Auch etliche andere Politiker betonen im Gespräch mit der AZ, wie überzeugend sie das Sicherheitskonzept finden. Tatsächlich ist auch in der Ratsboxe die Polizei deutlich sichtbarer präsent als in früheren Jahren, immer wieder streifen Beamte durch die Gänge.
Claudia Roth singt "Ein Prosit der Gemütlichkeit"
Dabei wundern sich manche Politiker durchaus auch, die härtere Kontrollen vor dem Gelände erwartet hatten. "Von der Poccistraße kommend waren die Sicherheitsleute einfach nur Dekoration", sagt einer. Er sei wie alle anderen einfach durchgegangen. Schottenhamel übrigens ist auch stolz auf ein Fast-Jubiläum: das 75. Mal zapft heute ein OB hier im Zelt an. Zumindest theoretisch, denn Corona-bedingt sind seit 1950 ja auch Oktoberfeste ausgefallen.
Die unverwüstliche Dauer-Wiesn-Gängerin Claudia Roth von den Grünen ist dann wohl das einzige Berliner Regierungsmitglied im Zelt. Sie verweist auch auf die Brandenburg-Wahlen an diesem Wochenende, wegen denen viele nicht gekommen seien. Sie aber ist wie immer voll dabei und singt sich schon eine Viertelstunde nach den Böllerschüssen mit ausgestrecktem Arm mit Maßkrug das "Prosit der Gemütlichkeit". Die Stimmung ist heiter, die Münchner Polit-Szene scheint sich ernsthaft zu freuen, dass es wieder los geht. Hat CSU-Stadtrat Hans Theiss da hinten gerade ernsthaft mit einer mobilen Verkäuferin über den Kauf eines (Beinchen-wackelnden) Hendl-Huts verhandelt? Er hätte Stadträtin Vroni Mirlach einen kaufen wollen – wenn sie ihn zum Anstich trägt, erklärt er der AZ. "Aber sie wollte nicht. Dabei hat die CSU doch eigentlich Humor!"
Ist die erste Maß gar keine Maß?
Der Trachtenträger-Anteil in der Ratsboxe bleibt auch 2024 sehr hoch. Wer keine trägt, fällt auf. Angesprochen darauf entfährt einem gar ein "Ich bin doch kein Bauer!" – nur um kurz danach flehentlich darauf hinzuweisen, aber in keinem Fall so mit den Namen in der Zeitung stehen zu wollen. So ist es natürlich auch bei diesem Thema – der Frage, wie voll denn die Steinkrüge in der Anzapfbox waren. Ist die erste Maß vielleicht gar keine Maß? Etwas mehr als eine Halbe zeigt auf jeden Fall einer an, der dort einen Steinkrug befüllt bekommen hat, als die AZ ihn fragt, wie voll der denn gewesen sei. Den Großkopferten wird es egal sein. Das große Schaulaufen hat wieder begonnen.