Kalt gespülte Krüge: Wiesnbier mit Viren-Schuss?

München - Tausende fallen ihr zum Opfer, selbst die, die gar nicht auf das Volksfest gehen: die sogenannte Wiesngrippe. Wie genau sie entsteht, was ihr Treiber ist – keiner weiß es genau. Offenbar will es auch niemand so genau wissen.
Für den Münchner Carlos Vogel, Betreiber des Monaco Cafés im Traditionskaufhaus "Ludwig Beck", ist der Umgang mit der Wiesngrippe und generell den hygienischen Bedingungen auf der Theresienwiese seit Jahren ein Ärgernis. Vogel glaubt, erkannt zu haben, warum das Immunsystem der Stadt jedes Mal zur Oktoberfestzeit kollabiert im Kampf gegen Viren, Bakterien und Keimen aller Art.
Vor acht Jahren hat Vogel eine Facebook-Gruppe gegründet mit dem Namen "Kaltspülung STOP". Völlig unverständlich für ihn: Die Festverordnung der Stadt erlaubt den sechs großen Wiesnwirten und Zeltbetreibern, die Maßkrüge kalt zu spülen – während er in seinem kleinen Café Gläser heißspülen muss. So will es die Lebensmittelhygieneverordnung und das Kreisverwaltungsreferat.
Wiesnwirte und Biergärten der Brauereien müssen sich nicht an Norm halten
2017 musste er einen Boiler unter seinem Spülbecken einbauen lassen. Als er sich während der Pandemie eine neue Heißspülmaschine zulegte, erklärte ihm der Mitarbeiter, die automatisierte Laufzeit sei von einer auf zwei Minuten hochgesetzt worden, um alle Viren und Bakterien bei mindestens 65 Grad effektiv deaktivieren zu können. Dies entspricht der DIN Norm 10511 für gewerbliches Gläserspülen, wie der Branchenverband Dehoga der AZ bestätigt.
Doch an diese Norm müssen sich die Wiesnwirte und auch die Biergärten der Brauereien nicht halten. Warum eigentlich nicht?
Ein Sprecher des Gesundheitsreferates teilt auf AZ-Anfrage mit: "Eine DIN-Norm stellt nicht zwangsläufig eine rechtliche bindende Vorschrift dar." Abweichungen seien möglich, "sofern mit anderen Mitteln das gleiche Ergebnis erreicht wird". Bei der Kaltspülung sei die Verwendung eines chlorhaltigen, desinfizierenden Spülmittels zwingend erforderlich. Dass dies aber zum "gleichen Ergebnis" führt, daran gibt es wissenschaftliche Zweifel.
BfR: "Erst Temperaturen über 65 Grad führen zur Inaktivierung der meisten Viren"
Bereits 2008 hat das unabhängige Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR), in einer Studie nachgewiesen, dass "das Spülen von Gläsern mit Kaltwasser und Desinfektionsmitteln für Verbraucher keinen ausreichenden Schutz vor der Übertragung von Keimen durch den Kontakt mit verunreinigenden Gläsern" biete.
Gerade bei unbehüllten Viren wie Noroviren, Adenoviren oder Hepatitis A aber auch bei bakteriellen Erregern wie Salmonellen, Kolibakterien, Streptokokken, Hefen und Schimmelpilzen führten "erst Temperaturen über 65 Grad zur Inaktivierung". Sonst müsse mit einer Rest-Infektiosität gerechnet werden. Schon 2008 verwies das BfR auf die Norm 10511. Und auch für 2022 gelte: Höhere Temperaturen würden "zu einer deutlichen Senkung der Menge der infektiösen Viruspartikel führen".
Das BfR hat 2022 auch zu SARS-CoV-2 auf Trinkgläsern eine Studie vorgelegt. Demnach braucht auch das Coronavirus neben Spülmittel und einer Mindestreinigungsdauer eine Spülwassertemperatur von mindestens 23 Grad, um abgetötet zu werden. Das normale Trinkwasser der Kaltspülanlagen hat in der Regel aber nur 15 Grad.
Stadt beruft sich auf Kontrollergebnisse: Krughygiene auf hohem Niveau
Doch die Stadt beharrt auf ihrer Praxis und beruft sich auf Kontrollergebnisse. 2019 hätten das Gesundheitsreferat und das KVR 612 optische Einzelkontrollen genommen – lediglich vier Prozent der Proben seien beanstandet worden. Auch 200 mikrobiologische Proben des Landesamts für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) seien nur zu vier Prozent beanstandet worden. Fazit: Die Krughygiene sei auf "nachweislich anhaltend hohem Niveau".
Atemwegsviren würden bei größeren Menschenansammlungen durch die Luft übertragen, einen Zusammenhang zwischen Krughygiene und Wiesngrippe "gibt es nicht", so das Gesundheitsreferat.
Hygiene-Professor: Städtische Kontrollen "unzulänglich"
Ganz anders beurteilt das der renommierte Hygiene-Professor Benjamin Eilts von der Hochschule Albstadt-Sigmaringen. "Wenn ich sehe, wie auf dem Oktoberfest gespült wird, dann trinke ich mein Bier lieber aus der Flasche oder trage drei Schichten Labello auf den Lippen und hoffe auf ein überragendes Immunsystem", sagt er. Seine Fachgebiete sind die Wirksamkeit von Desinfektionsmitteln und Performance-Prüfungen beim Geschirrspülen.
Die städtischen Kontrollen hält er angesichts von Tausenden Maßkrügen, die stündlich befüllt werden, für "unzulänglich", weil viel zu gering.
Eilts erinnert sich an auffallend viele Lippenstiftreste an den Maßkrügen bei seinem letzten Oktoberfestbesuch. "Für 13, 14 Euro erwarte ich einen picobello hygienischen Krug, in dem das Bier dem Reinheitsgebot entspricht und nicht eine Mischung aus Chlor, Viren und Hopfen enthält."
Wissenschaftler: "Völlig veraltete, vorsintflutliche Technik"
Als Begründung für die erlaubte Kaltspülung antwortet der Sprecher des Gesundheitsreferats, als wäre er Wiesnwirte-Sprecher (welcher sich auf Nachfrage nicht dazu äußern wollte): "Zum einen kann bei einer Heißspülung nicht der erforderliche Durchsatz an gereinigten Trinkgefäßen erreicht werden, zum anderen können erwärmte Krüge erst nach entsprechender Abkühlzeit wieder befüllt werden".
Wissenschaftler Benjamin Eiltshält dagegen: "Auf dem Oktoberfest wird heute größtenteils eine völlig veraltete, vorsintflutliche Technik benutzt. Die modernen Spülsysteme von heute machen ein absolut hygienisches Glas und schalten hinter eine Heißspülung noch eine Kaltspülung dazu, so dass man das Glas direkt wieder befüllen kann. Ich verstehe nicht, warum man Normen und Standards schafft, die man dann für 16 Tage unterläuft."
Es geht also ums Geschäft. Und das will sich die Stadt offenbar auch nicht von einem wie Carlos Vogel verderben lassen, der bei jeder Gelegenheit gegen die Kaltspülung wettert. Nur wenige Tage nach seinem jüngsten Kommentar auf Facebook ("Selbst Corona konnte die Bierlobby nicht stoppen") schaute das KVR bei ihm im Monaco Café zu einer Hygieneprüfung vorbei.