Fieser Trend am "Kotzhügel" auf dem Oktoberfest in München: Betrunkene filmen und dies ins Internet stellen

München - Er liegt da und schlummert. Von all dem Trubel um ihn herum bekommt er nichts mit. Nicht, als ein Übermütiger mit grauem Sepplhut Anlauf nimmt und über ihn drüber springt. Nicht, als sich ein anderer junger Mann mit der Fluppe in der Hand direkt neben ihn schmeißt und sich grinsend von einem Freund mit ihm ablichten lässt. Und auch nicht, als ein dritter Pöbler direkt vor ihm steht, ihm etwas Unverständliches ins Gesicht plärrt und dann lachend abzieht.
Es ist offensichtlich, dass der junge dunkelhaarige Mann, der da so regungslos bäuchlings im Gras liegt, nicht mehr zurechnungsfähig ist. Kategorie Vollrausch. Witzig? Vielleicht auf den ersten Blick. Wer das Geschehen am "Kotzhügel" allerdings eine Weile beobachtet, dem bleibt das Lachen eher im Hals stecken.

Der "Kotzhügel" am Oktoberfest: Die Wiesn von ihrer hässlichsten Seite
Hier zeigt sich die Wiesn von ihrer hässlichsten Seite. Wer sich dazu entscheidet, am Hügel rund um die Bavaria seinen Starkbier-Rausch auszuschlafen, muss im schlimmsten Fall damit rechnen, am nächsten Tag ein Beweisvideo davon im Internet zu finden. Eines, dass prinzipiell alle sehen können: die Freundin, die Eltern, Kollegen – vielleicht sogar der Chef.
Hier am Hügel zücken viele Menschen die Kamera und lachen, wenige helfen. Wie der Betrunkene so daliegt, nicht ansprechbar und mit offenem Mund, wird er ständig fotografiert. Es sind hauptsächlich junge Männer, die vor ihm stehen bleiben und abdrücken, viele von ihnen sind allein unterwegs.

Plötzlich blinzelt der Schlummernde und versucht, sich aufzurichten. Sein Gleichgewichtssinn hat ihn längst verlassen, er purzelt einen Meter mit dem Kopf voran den Abhang hinunter. Das Handy liegt noch oben im Gras, aber sein Besitzer hat die Augen schon wieder geschlossen und rührt sich nicht mehr. Fast wäre er mit dem Gesicht auf dem harten Asphalt aufgeschlagen. Ein paar Passanten, die den Absturz beobachtet haben, eilen zu ihm. Sie wollen ihm helfen – und sie werden an diesem Nachmittag die einzigen bleiben, die nicht zusehen, filmen und grölen.
Szenen vom "Kotzhügel": Absturz, Drama, Voyeurismus
Ein Mann im weißen Pulli klaubt das Handy auf und bringt es dem jungen Mann, den die anderen inzwischen aufwecken und ansprechen konnten. Dann ändert sich die Situation schlagartig. Der Betrunkene greift nach seinem Handy, steckt es sich in seine hintere Hosentasche, steht auf und wankt so schnell es geht davon.
Weit kommt er nicht. An einem großen orangenen Müllcontainer bleibt er stehen und lehnt sich mit dem Kopf dort an. Er wirkt verzweifelt. Der Wiesn-Mitarbeiter in orangener Weste klopft ihm mitfühlend auf den Rücken. Dann nimmt das Drama seinen erschreckenden Höhepunkt.
Der junge Mann läuft zurück auf die Wiese, zieht seine Hose herunter, geht in die Hocke und tut, was er so dringend tun muss – die nächste Toilette konnte er in seinem Zustand nicht mehr rechtzeitig finden. Vielleicht wird er sich nicht daran erinnern, dass ihm unzählige Leute dabei zusehen, laut grölen, auf ihn zeigen, lachen – und diese Szene filmen.

Polizei warnt: Wer am "Kotzhügel" filmt, kann sich strafbar machen
Andreas Franken, Pressesprecher der Münchner Polizei weiß, dass so etwas hier passiert. "Wir haben eine ganz klare Haltung, was es anbelangt, Personen, die sich in hilflosen oder gefährlichen Situationen befinden, zu filmen und ins Netz zu stellen", sagt er. "Wer sowas tut, macht sich unter Umständen auch strafbar." Und weiter: "Natürlich ist die Grenze zwischen: ,Jetzt ist es lustig' und: ,Jetzt ist es schon demütigend' manchmal schmal, ganz klar. Aber das ist ein Phänomen, mit dem wir zur aktuellen Zeit auch umgehen müssen."
Zurück am Hang. Kurze Zeit nach dem Vorfall wird der Mann, der sich gerade vor laufender Handykamera blamiert hat, von Security-Kräften weggeführt, die Plastikhandschuhe tragen. Hinten auf seiner kurzen hellbraunen Stoffhose prangt ein großer, dunkler Fleck.
Der Hügel, ein Schandfleck für München? Der Wiesn-Chef Clemens Baumgärtner (CSU) findet, dass die Stadt die Situation im Griff hat: "Wir haben an allen Hügeln so viel Security stehen und so viel Kameras dort positioniert, wir haben uniformierte Beamte, wir haben Beamte in Zivil." Dass unter diesen Umständen noch etwas passiere, das nicht sein darf, halte er für "so gut wie unmöglich". Wenn doch, dann seien das "bedauernswerte Einzelfälle".
Stadt will Sicherheitskonzept evaluieren
Man werde das Sicherheitskonzept wie in jedem Jahr evaluieren. Aber prinzipiell sei das Areal dort inzwischen eher mit einer "´Chill-Out-Zone´ auf Neudeutsch zu vergleichen".
Ganz falsch ist die Beobachtung des Wiesn-Chefs vielleicht nicht. Erinnert man sich zurück an frühere Zeiten – vor allem an die, bevor die Wiesn 2016 eingezäunt wurde –, war der als "Kotzhügel" verschrieene Hang ein Ort des Grauens. Erbrochenes, Blut, andere Körperflüssigkeiten, Menschen, die sich kaum noch bewegen konnten, lagen vor allem nach der Dämmerung hier herum. Wer halbwegs nüchtern war, mied das Areal. Es gab Übergriffe, vor allem gegen Frauen. Die Wiesn von ihrer dunkelsten Seite.
Seitdem hat die Stadt viel getan. Zum einen ist der Bereich deutlich kleiner geworden. Was vor allem am Zaun liegt. Die Umgebung ist inzwischen auch besser ausgeleuchtet. Menschen, die auf dem Hügel Sex haben – so etwas gibt es kaum noch. An warmen Nachmittagen sitzen tatsächlich einfach Menschen entspannt auf der Wiese und schauen auf das Volksfest-Treiben.
Doch es gibt sie eben immer noch, diejenigen, die nicht mehr können. Die hier einfach liegen bleiben. Denen wurde vielleicht auch früher schon meistens nicht geholfen. Doch zumindest blieb der Moment, in dem sie ganz unten waren, nur auf der Wiesn – und landete nicht als Video im Netz. Wo dann noch mehr Menschen über sie lachen, als die, die gaffend neben dem "Kotzhügel" stehen.