Die Retter von der Wiesn
München - Der junge Mann mit den Flip-Flops stößt undefinierbare Laute hervor, sein Kumpel muss ihn stützen. Im Gesicht hat er Blut und Schürfwunden, seine Lederhose ist dreckig. Der Arzt schickt ihn in den Behandlungsraum, wo er hinter einem Vorhang auf der Liege zusammengesackt. „Die Verletzungen im Gesicht sind wohl schon von gestern“, stellt der Notarzt fest. Jetzt ist vor allem wichtig: Kann der Patient allein atmen? Ist er unterkühlt? Besteht die Gefahr, dass er an Erbrochenem erstickt?
Hier im Neonlicht der Sanitätsstation sieht der Wiesn-Spaß gar nicht mehr so lustig aus. Rund 10000 Patienten landen hier pro Wiesn – von der Dame, die sich ein Blasenpflaster für die Füße holt, bis zum Mann mit Herzinfarkt.
Und natürlich viele Bierleichen. Eine Frau zum Beispiel wird mit eiserner Konsequenz jeden Abend wieder hier eingeliefert. „Unsere Hauptklientel“, sagt der Ärztliche Leiter Ulrich Hölzenbein, „ sind aber nach wie vor Männer zwischen 20 und 30, die ihre Grenzen nicht kennen.“
Die kommen dann in den Überwachungsraum mit 15 Liegen. Neben jeder steht ein Eimer mit Plastiksack, daneben ein EKG-Gerät und eine Heizung. Gerade wird dort ein junger Mann mit Infusion versorgt – Kochsalzlösung und Zucker bekommen die meisten. Weniger hoch als ein Krankenhausbett sind die Liegen, damit man nicht tief fallen kann, außerdem schützt ein Metallgitter die Patienten vor dem Rausfallen.
Nur am Wochenende ist hier die ganze Nacht Betrieb, an anderen Tagen wird gegen 1.30 Uhr geschlossen. Wer bis dahin nicht selbst gehen kann, kommt ins Krankenhaus. Im Untergeschoss blinkt die Anzeige auf: „Nächste Trage: 1“. Für Rettungsassistent Leon Bogner das Zeichen, dass er beim nächsten Einsatz dran ist.
Hier gehen die Aufträge über die Rettungsleitstelle ein: Freunde, Security oder Wiesnbedienungen melden die Fälle – oder auch Passanten, denen ein regloser Körper auffällt. In den Nächten ist das wegen Unterkühlung durchaus gefährlich.
„Vorsicht, bitte, Vorsicht!“ Bogner und seine Kollegen versuchen, das Rettungswagerl mit der gelben Plane durch die Massen zu steuern. Ein Rentner klagt im Zelt über Schmerzen in der Brust. Der Mann spricht schleppend, er ist sichtlich betrunken. Leon Bogner lässt sich die Schmerzen erläutern, er fragt: Nehmen Sie Artzney? Leiden Sie unter Bluthochdruck? Hatten Sie schon mal einen Herzinfarkt? Infos, die überlebenswichtig sein können.
Noch vor Ort bekommt der Mann eine Infusion und Sauerstoff. Eine torkelnde Clique geht vorbei und lallt: „Geeill, der Alte, Infuusiooon!“ In der Sanitätstation wird der Mann von einem Arzt empfangen, der „sichtet“. Er entscheidet, was mit dem Patienten als nächstes passiert. Der alte Mann kommt in den Akut-Raum: Ein Herzinfarkt muss ausgeschlossen werden. Das Schwierigste für die Ärzte hier ist, zwischen denen zu unterscheiden, die nur blau sind, und denen, die ernsthafte Probleme haben.
Der 18-Jährige Benni (Name geändert) ist nur angeheitert. Er hat sich an einer Scherbe den Finger verletzt. Jetzt wird die Wunde in der „Nähstube“, wie die Ärzte den Raum nennen, geflickt. Während ihm der Arzt erklärt, dass er wegen des Alkohols wenig Schmerzen hat, erläutert Benni bester Laune: „Ach was, Alkohol macht schön!“
Viele der Ärzte hier und alle Sanitäter arbeiten ehrenamtlich. „Es macht Spaß, die Wiesn ist schon etwas Besonderes“, sagt der 20-Jährige Leon Bogner, der schon als 14-Jähriger zum BRK gegangen ist und inzwischen hauptberuflich Rettungsassistent ist. Sein Einsatzleiter Werner Masanz hat schon 30 Wiesn hinter sich.
Zwar seien die jungen Leute immer früher am Tag betrunken – das berühmte Vorglühen. Das Lamento über die heutige Exzess-Wiesn bestätigt Masanz aber nicht. „Jede Ära hatte ihre Exzesse“, sagt er und erinnert an die Besäufnisse der amerikanischen Military Police, an dem „Maurer-Montag“ oder an die Ausscheider der Bundeswehr. Allerdings seien heute mehr Frauen betrunken. So wie die 15-Jährige, die am Italiener-Freitag partout ihren Namen nicht sagen wollte, weil sie nicht will, dass jemand ihre Eltern anruft. Irgendwann ist das BRK nicht mehr zuständig – das Mädchen ist ein Fall für die Polizei, die hier oft Leute bringt oder abholt.
Das Ende des Wiesn-Abends schaut für die Patienten unterscheidlich aus. Der Bursche in der Überwachung setzt sich nach zwei Stunden wieder auf und sagt: „Grüß Gott!“ Den Mann mit den Flip-Flops schickt der Arzt doch ins Krankenhaus: Seine Atmung wurde immer flacher. Der ältere Herr hat keinen Herzinfarkt, sondern hohen Blutdruck. Nachdem er sich erbrochen hatte, schlief er auf der Liege seinen Rausch aus.
Und der Bursche mit dem genähten Finger hat es danach sehr eilig: zurück ins Bierzelt.